Bozen, Göttingen, 5. Oktober 2023
Armenischen und aserbaidschanischen Medienberichten zufolge hat Aserbaidschan eine Festnahmeliste von 300 Arzach-Armeniern erstellt, die der Regierung, den Streitkräften oder dem Parlament angehörten. Es gab bereits Verhaftungen, einige Betroffene sind noch in Stepanakert und werden dort mehr oder weniger als Geiseln gehalten. Auch Kinder sollen verschleppt worden sein. Die Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) hat das Internationale Komitee des Roten Kreuzes (IKRK) heute in einem Schreiben aufgefordert, sich für freies Geleit dieser Personen nach Armenien einzusetzen. „In den letzten Tagen wurden bereits führende Vertreter der Arzach-Armenier von Aserbaidschan festgenommen. Als Menschenrechtsorganisation sind wir in großer Sorge um ihre Sicherheit“, erklärte Sarah Reinke, Osteuropaexpertin der GfbV heute in Göttingen. „Wir fordern das IKRK dringlich auf, sich um freien Zugang zu den Gefangenen zu bemühen. Eine Delegation muss ihre körperliche Unversehrtheit feststellen und braucht dafür internationalen Schutz. In einem Schreiben bitten wir Bundesaußenministerin Annalena Baerbock, diese Aufforderung an das IKRK tatkräftig zu unterstützen.“
Im März 1915 gab es schon einmal eine derartige Liste, damals aus dem osmanischen Reich. Daraufhin wurden am 24. April 1915 hunderte Armenier festgenommen, ins Landesinnere deportiert und ermordet, teilweise nach Scheinprozessen. Dieses Verbrechen gilt als Startpunkt des von der Bundesrepublik 2016 anerkannten Genozids an den Armeniern. „Das Wiederaufleben dieser Praxis lässt die schlimmsten Befürchtungen wahrwerden. Die Vergangenheit wiederholt sich vor unseren Augen“, mahnt Reinke. „Nachdem die EU und die Bundesregierung trotz aller Warnungen der nahezu vollständigen Vertreibung der 120.000 Arzach-Armenier zugesehen haben, müssen sie nun zumindest stark gefährdete Einzelpersonen schützen und die Vertriebenen humanitär versorgen.“
Unter den bereits Verhafteten sind aktuelle und frühere Regierungs- und Parlamentsmitglieder von Arzach (Bergkarabach) sowie Kommandeure der Selbstverteidigungskräfte. Es handelt sich im Einzelnen um folgende Personen: Arajik Harutjunjan, bis September 2023 Präsident, David Babajan, ehemaliger Außenminister, die früheren Präsidenten Bako Sahakjan und Arkadi Ghukasjan, den Parlamentssprecher Davit Ischchanjan, den vormaligen Regierungschef Ruben Wardanjan, Lewon Mnazakanjan und Davit Manukjan, frühere Kommandeure der Selbstverteidigungskräfte Arzachs, sowie den Chef des Sicherheitsrates Arschawir Gharamjan. Mit weiteren willkürlichen Verhaftungen ist in den nächsten Tagen zu rechnen.