Bozen, Göttingen, 30. August 2022
Erstmals spielen indigene Rechte eine zentrale Rolle in der chilenischen Verfassung. Die Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) begrüßt den fortschrittlichen Entwurf, über den die Bevölkerung am 4. September abstimmt. „Nach 200 Jahren Unabhängigkeit strebt das plurinationale Chile endlich Frieden und Versöhnung mit den indigenen Völkern an. Die Grundrechte, insbesondere die Landrechte in dieser demokratisch erarbeiteten Verfassung bringen diesen Prozess voran“, erklärt Regina Sonk GfbV-Referentin für indigene Völker.
Der neue Verfassungstext schlägt wesentliche Änderungen des politischen und wirtschaftlichen Modells vor. Die vorherige, in der Pinochet-Diktatur eingeführte Fassung basierte auf Neoliberalismus und der Privatisierung des öffentlichen Sektors. Das hat Chile eine lange Periode des stabilen Wachstums beschert, aber auch massive soziale Ungleichheiten hervorgerufen. In den Bereichen Bildung, Gesundheit und Grundversorgung im Alter ist das soziale Gefälle extrem. „Auf der anderen Seite gibt es eine sehr gut finanzierte Kampagne aus dem rechten Lager gegen den Verfassungsentwurf. Mit Fehlinformationen und falscher Wiedergabe des Verfassungstextes werden Zweifel gesät. Das zeigt bei vielen Menschen Wirkung“, berichtet Sonk. „In Chiles Großstädten gibt es vor der Abstimmung große Demonstrationen für und gegen die neue Verfassung. Die Wahl am Sonntag wird diese Spaltung der Gesellschaft abbilden.“ Laut den jüngsten Umfragen führen die Nein-Stimmen knapp vor den Ja-Stimmen.
Der Mapuche-Aktivistin, -Sprachwissenschaftlerin und -Universitätsprofessorin Elisa Loncón zufolge legt Artikel 5 des Verfassungsentwurfs fest, dass Chile die Koexistenz verschiedener Völker und Nationen im Rahmen der Einheit des Staates anerkennt. Dabei würde Chile durch die neue Verfassung die Mapuche, Aymara, Rapa Nui, Lickanantay, Quechua, Colla, Diaguita, Chango, Kawashkar, Yaghan, Selk’nam und andere indigene Völker endlich anerkennen. Die Mapuche-Rechtsanwältin Rosa Catrileo, Mitglied der verfassungsgebenden Versammlung, meint, dass „unabhängig davon, ob diese Verfassung [bei der Volksabstimmung] abgelehnt oder angenommen wird, die indigenen Völker Chiles bereits gewonnen haben“. Sie betont: „Wir haben unsere Forderungen auf nationaler Ebene sichtbar gemacht, so dass wir nie wieder von der Diskussion ausgeschlossen werden.“
Eine Ablehnung des Textes würde Chile in eine Sackgasse führen. Denn das chilenische Volk hat bereits im Oktober 2020 in einem Plebiszit entschieden, dass das Land eine neue Verfassung braucht. Im Falle einer Ablehnung käme nur die Einberufung eines neuen Verfassungskonvents in Frage. Derweil bliebe die Verfassung von 1980 einfach in Kraft.