Bozen, Göttingen, 27. Juni 2024
Die Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) äußert große Besorgnis über den vermeintlichen Putschversuch in Bolivien. „Hintergrund der aktuellen politischen Unruhen in Bolivien sind schwelende ökonomische, soziale und politische Krisen sowie ein interner Machtkampf innerhalb der Regierungspartei MAS“, sagt Jan Königshausen, GfbV-Referent für Indigene Völker.
„Ob es sich tatsächlich um einen Putschversuch handelt und was genau dahinter steckt, ist bislang unklar. Klar ist, dass durch die aktuellen Entwicklungen die politische Krise weiter verschärft wurde und das Vertrauen der bolivianischen Bevölkerung in die Regierung und die politischen Institutionen weiter erodiert“, erklärt Königshausen. „Die Regierung muss sofort ihre internen Machtkämpfe einstellen, die schon im letzten Jahr, angeleitet vom früheren Präsidenten Evo Morales, zu Streiks, Straßenblockaden und gewaltsamen Auseinandersetzungen geführt haben. Um langfristig politische Stabilität wiederherzustellen, ist ein umfassender Friedensprozess unerlässlich, der auch die Stimmen der indigenen Gemeinschaften einschließt.“
Das jüngste Ereignis fügt sich in eine lange Liste politischer Krisen und Putschversuche ein, die das Land, vor allem vor dem Aufkommen der MAS, nie haben zur Ruhe kommen lassen. „Das wiederholte Aufkommen solcher Krisen zeigt die dringende Notwendigkeit für eine stabile und inklusive politische Struktur. Nur wenn alle Bevölkerungsgruppen politisch vertreten sind, kann Bolivien eine Zukunft ohne ständige politische Umwälzungen und autokratische Züge haben“, so der GfbV-Referent.
„Es ist dringend erforderlich, dass die bolivianische Regierung und alle politischen Akteure in den Dialog treten und die Rechte aller indigenen Gemeinschaften respektieren“, so Königshausen. „Luis Arce bezeichnete sich zu Beginn seiner Amtszeit als Präsident aller Bolivianer. Stattdessen wurden die Spaltungen unter ihm immer größer. Die Tieflandindigenen wurden strukturell geschwächt, ihr Lebensraum wird ausgebeutet. Gleichzeitig bildete sich eine Vorherrschaft der Hochlandindigenen, insbesondere der Quechua und Aymara, die ethnisch den Großteil der Regierung stellen. Dieser Konflikt befeuert die aktuelle politische Krise.“
Der seit 2021 andauernde Machtkampf innerhalb der Regierungspartei lähmt seitdem das ganze Land und führte nun zu einer weiteren Eskalation. Schon 2019 manifestierte sich wieder einmal die tiefe Spaltung in Bolivien, in ein Lager, das nach der kontroversen Wiederwahl von Evo Morales Wahlbetrug reklamierte, und ein anderes, das von einem Putsch sprach, als selbiger aufgrund von Gewaltandrohungen das Land verlassen musste. Diese postfaktische Realität, in der Fakten und Desinformation vermischt werden, hat das Vertrauen der Bevölkerung in die politischen Strukturen geschwächt. Das Entstehen einer politischen Opposition wurde systematisch untergraben, sodass sich nun kein Akteur im Land als dringend benötigter Vermittler zwischen den tief verfeindeten Gruppen anbietet.