Bozen, Göttingen, 10. Januar 2024
Der ehemalige Ko-Vorsitzende der HDP-Partei Selahattin Demirtaş, der seit dieser Woche im sogenannten Kobane-Prozess vor einem Strafgericht in Ankara steht, hat in seiner Verteidigungsrede konkrete Schritte vorgeschlagen, um die kurdische Frage in der Türkei friedlich zu lösen. „Leider haben Politik und Medien in Europa diesen Prozess und den ‚Friedensplan‘ kaum zur Kenntnis genommen“, berichtete Dr. Kamal Sido, Nahostexperte der Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) heute in Göttingen. Demirtaş schlug sieben Schritte vor, um den seit der Gründung der Republik Türkei vor über 100 Jahren andauernden Konflikt und die damit verbundenen Kriege, Vertreibungen, Fluchtbewegungen, Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen durch Verhandlungen beizulegen. Als ersten Schritt fordert der seit 2016 inhaftierte 51-Jährige ein Ende des „bewaffneten Kampfes“ zwischen der türkischen Armee und der kurdischen PKK.
Damit beide Seiten wieder miteinander reden können, müssten „alle rechtlichen und administrativen Hindernisse für eine demokratische Politik“ in der Türkei beseitigt werden. Das Recht auf friedlichen Protest, auf Streiks, auf Selbstorganisation, sowie auf freie Meinungsäußerung müsse garantiert und mit europäischen und universellen Standards in Einklang gebracht werden. Die dritte Forderung betrifft den Ort, an dem Vorschläge und politische Debatten zur Lösung der Kurdistanfrage stattfinden. Dieser Ort, so Demirtaş, sei das Parlament, die „Große Nationalversammlung der Türkei“. Dafür brauche das Land eine neue zivile und freiheitlich-demokratische Verfassung.
Diese neue Verfassung soll die Kurden „als Volk anerkennen, den freien Gebrauch ihrer Muttersprache in allen Bereichen, die Bewahrung und Entwicklung ihrer Geschichte und Kultur, ihre Selbstorganisation mit eigener Identität und das Recht auf Selbstverwaltung gewährleisten.“ Weiterhin müssten Verbrechen der Vergangenheit untersucht werden und eine kritische Aufarbeitung der Geschichte des Landes beginnen. Schließlich müssten die zehntausenden aus politischen Gründen Inhaftierten freikommen.
„Die türkische Führung wird auf keinen einzigen der Vorschläge von Demirtas eingehen. Denn diese Vorschläge haben kurdische Politiker immer wieder gemacht. Die friedliche Lösung der kurdischen Frage scheitert nicht an der mangelnden Kompromissbereitschaft der Kurden. Vielmehr beharrt der türkische Staat darauf, diese Frage mit Krieg, Gewalt, Vertreibung, Zwangsassimilation, Strafverfahren und Gefängnissen zu lösen“, erklärt Sido.
Der „Kobane-Prozess“ befasst sich mit den Ereignissen um die syrisch-kurdische Grenzstadt Kobane, die 2014/15 vom IS belagert wurde. Damals hinderte das türkische Militär Kurden aus der Türkei daran, ihren Verwandten auf der anderen Seite der Grenze zu Hilfe zu kommen. Dagegen rief Demirtaş damals zu Protestaktionen auf.