Bozen, Göttingen, 9. Dezember 2024
Nach dem Zusammenbruch des Assad-Regimes in Syrien hat die Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) ihren Appell an die europäischen Regierungen erneuert, die Menschen in Syrien nicht ihrem Schicksal zu überlassen. „Die EU sollte sich jetzt aktiv für einen Übergangsprozess einsetzen, in dem demokratische und säkulare Strukturen gestärkt werden. Bis das nicht gewährleistet ist, warnen wir vor vorschnellen Aufrufen zur Rückkehr von Geflüchteten“, fordert der GfbV-Nahostreferent Dr. Kamal Sido.
Die Lage in Syrien ist aktuell von großer Unsicherheit geprägt. Viele Menschen in Syrien freuen sich zurecht über den Sturz Assads, denn sie haben unter der brutalen Diktatur gelitten, Angehörige verloren oder warten auf ein Lebenszeichen von Verwandten im Gefängnis. Doch die Islamisten, die nun die Macht übernehmen wollen, warten auf Rache oder darauf, endlich einen islamistischen Staat in Syrien zu errichten. Viele Syrerinnen und Syrer blicken deswegen auch mit Sorge in die Zukunft: Sie wissen, dass der Islamismus noch nie etwas Gutes gebracht hat. Gleichzeitig ist ihr Alltag von großer Unsicherheit geprägt. Viele wissen nicht, wie sie ihren Lebensunterhalt bestreiten sollen, ob sie für sich und ihre Kinder ein Stück Brot finden werden.
Wie die Zukunft der Zivilbevölkerung in Syrien aussehen wird, kommt darauf an, ob die demokratischen, säkularen Kräfte, die Minderheiten wie Kurden, Armenier, Assyrer/Aramäer/Chaldäer, Christen, Yeziden, Drusen, Ismailiten, Schiiten, die syrischen Frauen, die den Kopftuchzwang ablehnen, und die Sunniten, die kein sunnitisch-islamistisches Regime wollen, durch die internationale Staatengemeinschaft, durch Nachbarstaaten wie Israel, Jordanien und den Irak, aber auch durch die USA und Russland unterstützt werden. Oder ob Erdoğan und die von der Türkei und dem Emirat Katar unterstützten Muslimbrüder gestärkt werden, die mit aller Macht versuchen, die Selbstverwaltung im Nordosten Syriens zu zerstören und Hunderttausende Kurden und die letzten Christen und Yeziden aus der Region zu vertreiben.
Die türkische Armee und ihre Söldner nutzen derweil die Gunst der Stunde und verstärken ihre Angriffe auf die „Syrischen Demokratischen Kräfte“ (SDF) in Manbidsch und östlich des Euphrats, wo in den letzten Tagen rund 200.000 Kurden, aber auch Angehörige anderer Volksgruppen Zuflucht gefunden haben. Auch die mehrheitlich von Kurden bewohnten Stadtteile Ashrafia und Sheikh Maksud in Aleppo werden weiterhin von den Islamisten belagert.
„Es gibt noch keinen Grund zur Freude. Ich werde erst glücklich sein, wenn die türkischen Besatzungstruppen und ihre islamistischen Söldner die kurdische Region Afrin und andere kurdische Gebiete verlassen haben und alle Menschen in Syrien ohne Angst vor Unterdrückung leben können“, sagt der im nordsyrischen Afrin geborene Menschenrechtler. „Ich wünsche mir, dass ich die Gräber meiner Eltern in dem 2018 von der Türkei besetzten Afrin besuchen und mich anschließend unter einem Olivenbaum ausruhen kann ohne Angst haben zu müssen, dass Männer mit langen Bärten vorbeikommen, ‚Allahu Akbar‘ rufen und mich verhaften, verschleppen oder gar töten.“