Bozen, Göttingen, 16. Dezember 2024
Nach dem Sturz der Assad-Diktatur warnt die Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) vor dem Entstehen einer „Islamischen Republik“ in Syrien. „Die neuen Machthaber Syriens geben sich in den ausländischen Medien zwar moderat, es gibt jedoch bereits viele Zeichen, dass sie ihre Versprechen nicht halten. Überall in Syrien werden Imame, Mullas und sunnitisch-islamische „Gelehrte“ mit staatlichen Aufgaben betraut. Sollte in Syrien eine „Islamische Republik“ entstehen, wird das dramatische Folgen für Minderheiten und Frauen haben“, warnt der Nahostreferent der GfbV, Dr. Kamal Sido, heute in Göttingen.
Im Gouvernement Tartus an der syrischen Mittelmeerküste wurde der ehemalige Dekan der Fakultät für islamisches Scharia-Recht an der Universität Idlib, Anas Ayrout, mit der Verwaltung des Gouvernements beauftragt, berichtet der Nahostreferent. In Idlib herrschten seit 2015 islamistische Milizen. Das Gouvernement Tartus hat rund 500.000 Einwohner und ist konfessionell sehr vielfältig. Neben sunnitischen Muslimen leben dort auch syrisch-orthodoxe Christen und Maroniten sowie Ismailiten. Die Mehrheit der Bevölkerung im Gouvernement ist alawitisch. Alawiten machen etwa 12 Prozent der gesamten syrischen Bevölkerung aus. Auch der gestürzte syrische Diktator Baschar al-Assad ist Alawit.
„Laut unseren Quellen vor Ort trauen sich Angehörige religiöser Minderheiten wie Alawiten, Ismailiten und Christen in Tartus nicht mehr auf die Straße. Sie haben Angst vor Racheakten sunnitischer Islamisten. Ihnen wird vorgeworfen, Assad zu unterstützen“, berichtet Sido. Der Islamist Anas Ayrout, der jetzt in der Region das Sagen hat, sprach in den vergangenen Tagen in seinen Predigten von „Fateh“ (deutsch: islamische Eroberung). Er und andere „Revolutionäre“ seien gekommen, um ein einziges Wort zu sagen: „Allahu Akbar“ (Allah ist groß). „Christen und andere religiöse Minderheiten leben in großer Angst. Gerüchte über erste Verwüstungen von Kirchen in Syrien machen die Runde. Ob die Christen in Tartus in diesem Jahr unbeschwert Weihnachten feiern können, ist ungewiss“, so der Menschenrechtler.
Gleichzeitig gehen die ethnischen Säuberungen gegen die kurdische Bevölkerung im Norden Syriens weiter. In der Stadt Manbidsch kommt es zu pogromartigen Übergriffen auf die dort noch lebende kurdische Zivilbevölkerung. Manbidsch wurde 2016 von den Kurden und ihren Verbündeten unter großen Opfern vom „Islamischen Staat“ (IS) befreit. In den vergangenen Tagen haben die türkische Armee und ihre islamistischen Söldner die kurdischen Kämpfer aus Manbidsch vertrieben. Auch in Aleppo bleibt die Lage für Kurden und Christen angespannt. Weiter nördlich von Aleppo, in der seit 2018 von der Türkei besetzten syrisch-kurdischen Region Afrin, sollen in den letzten fünf Tagen mindestens 100 Kurden von islamistischen Söldnern der Türkei festgenommen worden sein. Sie waren nach dem Sturz Assads in ihre Heimat zurückgekehrt und wollten in ihre Häuser zurück.
„Die Entwicklungen sind besorgniserregend. Die Lage in Syrien könnte weiter eskalieren und zu einem arabisch-kurdischen Krieg führen. Der türkische Machthaber Recep Tayyip Erdoğan hat seinen Außenminister und seinen Geheimdienstchef bereits in die syrische Hauptstadt Damaskus geschickt, um eine friedliche Lösung zwischen den neuen Machthabern in Syrien und der kurdischen Selbstverwaltung im Nordosten des Landes zu torpedieren. Diese Politik Erdoğans ist brandgefährlich. Die deutsche Bundesregierung, insbesondere das Auswärtige Amt, darf nicht auf Erdoğan und die syrischen Islamisten setzen, wenn sie wirklich Stabilität und eine langfristige Friedensordnung schaffen will“, warnt der Nahostreferent.
„Der Konflikt hat auch Auswirkungen auf Angehörige syrischer Minderheiten, die nach Deutschland geflüchtet sind. Zwischen konservativ gesinnten Syrern, die mit den Islamisten in Syrien sympathisieren, sowie Kurden und Christen aus Syrien kommt es zunehmen zu Konflikten. Deutsche Politiker dürfen die Gefahren des politischen Islam nicht unterschätzen – weder in Syrien noch in Deutschland“, mahnt Sido.