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Völkerrechtswidrige Annexion der Krim

Acht Jahre unter russischer Besatzung: Die Situation der Krimtatar*innen

Gewalt, Willkür und Straflosigkeit: Viele Krimtatar*innen haben ihre Heimat mittlerweile verlassen. Denn seit Russland die Krim im Jahr 2014 völkerrechtswidrig annektierte, leben sie dort in einem Klima der Angst. Die russische Propaganda setzt währenddessen bereits bei den Jüngsten an.

Mustafa Dschemilew leistet als Politiker unermüdlich Widerstand gegen die russische Besatzung auf der Krim. Foto: Wikipedia

Wladimir Putins Krieg gegen die Ukraine begann für die indigene Bevölkerung der Krimtatar*innen bereits im Jahr 2014: Damals annektierte Russland die Halbinsel Krim völkerrechtswidrig und hält sie bis heute besetzt. In diesem Zeitraum verloren bereits wieder zehntausende Krimtatar*innen ihre Heimat. Sie mussten auf das ukrainische Festland fliehen, weil sie nur dort in Freiheit leben konnten. Die Krim ist entgegen der russischen Propaganda nicht als Teil Russlands anerkannt, sondern gehört völkerrechtlich zur Ukraine. Das, was die Krimtatar*innen seit 2014 auf ihrer Halbinselt erleiden, war ein bitterer Vorgeschmack dessen, was heute in den von der russischen Armee gewaltsam eroberten Gebieten der Ukraine passiert: Gewalt, Willkür und Straflosigkeit. Menschen werden von den russischen Besatzern ermordet oder verschwinden einfach. Seit ihrer Rückkehr ab 1989 aus dem zentralasiatischen Exil hatten die muslimischen Krimtatar*innen eigene Medien aufgebaut und in ihrer Selbstvertretung, dem Medschlis, ihre Interessen formuliert. Diese Strukturen wurden von der russischen Regierung seit der Annexion zerschlagen. Der Internationale Gerichtshof in Den Haag forderte Russland im April 2017 auf, die Schließung des Medschlis zurückzunehmen und den Krimtatar*innen ihre Rechte zurückzugeben. Im Dezember 2018 verurteilte die Vollversammlung der Vereinten Nationen die Annexion als illegal. Aber Russland ignoriert das Völkerrecht, internationale Gerichte und die Vereinten Nationen.

Rechtsprechung als Waffe
Beispielhaft für die russische Missachtung von Rechtsstaatlichkeit ist der Fall von Refat Tschubarow. Er ist Vorsitzender des Medschlis und damit einer der wichtigsten krimtatarischen Politiker. Die russischen Besatzer verboten ihm bereits 2014 für fünf Jahre die Wiedereinreise auf die Krim. Tschubarow war am 4. Juli 2014 von der Krim in die Region Kherson gereist, um an einer Sitzung des Medschlis teilzunehmen. Als er am Tag darauf zurück auf die Krim reisen wollte, stoppte ihn ein Großaufgebot einer russischen Spezialeinheit. Am 2. Juni 2021 verurteilte der Oberste Gerichtshof der Krim, inzwischen ebenfalls ein Instrument der russischen Besatzungsherrschaft, ihn in Abwesenheit zu einer sechsjährigen Gefängnisstrafe und einer Zahlung von 200.000 Rubeln (umgerechnet ungefähr 3.300 Euro (Stand: Juli 2022)). Der Vorwurf: Tschubarow habe am 26. Februar 2014 „Massenunruhen“ organisiert. Interessanterweise hatte Russland zu diesem Zeitpunkt die Krim noch nicht annektiert. Erst einen Tag später, am 27. Februar 2014, besetzten Bewaffnete das Parlament der Hauptstadt Simferopol und Soldaten die Regierungsgebäude. Das Gericht verurteilte Tschubarow für eine Tat, die er nicht begangen hatte und für deren Verfolgung es keine rechtliche Grundlage gab. Gesetze und Gerichte sind für die russische Regierung Waffen, die sie gegen kritische Stimmen einsetzt. Ein anderes Instrument zur Machterhaltung ist der Bildungsbereich auf der Krim. Er ist zur Plattform russischer Propaganda geworden. Krimtatar*innen berichten, dass in Schulen zunehmend die Kreml-Sicht auf die Geschichte und die Gegenwart der Krim gelehrt wird. Im Auftrag der Schulbehörde drängen Lehrkräfte Kinder in Simferopol dazu, russischen Soldaten bewundernde Briefe zu schreiben. In extra einberufenen Schulstunden wird Kindern erzählt, dass die Annexion der Krim durch Russland rechtmäßig abgelaufen sei und es sich beim Medschlis um eine terroristische Vereinigung handele.

Wiederaufbau nach dem Völkermord
Die indigene Gemeinschaft der Krimtatar*innen wurde in der Vergangenheit bereits mehrfach Opfer von Vertreibung und Völkermord. So eroberte Russland zum Beispiel bereits 1771 zeitweise die Krim. „Die Kehrseite der russischen Kolonisierung [der Krim] war die Massenflucht und Auswanderung von mehr als 300.00 Krimtataren, meist ins Osmanische Reich.“, schreibt der Historiker Karl Schlögel in seinem Buch Entscheidung in Kiew – Ukrainische Lektionen. Fast zwei Jahrhunderte und zwei Weltkriege später, am 18. Mai 1944, begann dann das Verbrechen, das bis heute im kollektiven Gedächtnis der Krimtatar*innen eine zentrale Rolle einnimmt: Die Deportation der Krimtatar*innen nach Zentralasien. Damals wurden die rund 238.500 Menschen in Viehwaggons von der Krim nach Zentralasien, vor allem Usbekistan deportiert. Bis zu 44 Prozent der Deportierten starben, die meisten Opfer waren Frauen und Kinder. Auch mehrere andere in der damaligen Sowjetunion ansässigen Völker wurden deportiert. Der Völkermord gehört zu den schlimmsten Verbrechen der jüngeren europäischen Geschichte. Erst Ende der 1980er Jahre konnten die Überlebenden allmählich aus Zentralasien in ihre Heimat zurückkehren, um sich ein neues Leben aufzubauen. Seit den 1990er Jahren entstanden unabhängige Medien wie der auf Krimtatarisch übertragende Sender ATR. Doch die russischen Besatzer*innen entzogen dem Sender 2014 umgehend die Lizenz. Seither sendet er vom ukrainischen Festland aus. Obwohl Wladimir Putin in einer Rede im März 2014 versprochen hatte, dass die Krimtatar*innen ihre Rechte behalten und in Freiheit leben sollten, zeigte sich schnell, was die russischen Besatzer*innen wirklich im Sinn hatten: Unterdrückung. Mit illegalen Festnahmen, Hausdurchsuchungen, Folter, Morden und dem Verschwindenlassen von Krimtatar*innen schüren die russischen Behörden seit acht Jahren ein Klima der Angst.

Der Wille zur Freiheit
Mustafa Dschemilew ist der wahrscheinlich bekannteste krimtatarische Politiker. Bereits zu Sowjet-Zeiten war er viele Jahre wegen seines mutigen Einsatzes für Menschenrechte in Gefängnissen und Arbeitslagern inhaftiert. Er hat die Deportation der Krimtatar*innen 1944 als Kleinkind überlebt und sich jahrzehntelang für eine Rückkehr seiner Gemeinschaft auf die Krim eingesetzt. Geht es nach den russischen Besatzern, darf Dschemilew erst wieder im Jahr 2034 auf die Krim einreisen. Doch er selbst glaubt, dass der Krieg mit einer Niederlage Russlands enden wird und auch die Menschen auf der Krim dann wieder frei sein können. Im Juli 2022 sagte er einem türkischen Nachrichtensender: „Der Krieg ist schrecklich, aber am Ende wird es die Möglichkeit geben, dass die Besatzung endet. (…) Das heutige Regime auf der Krim ist schlimmer als das Sowjetregime. Wieder werden Menschen dazu gezwungen, ihre Heimat zu verlassen. Menschen, die 23 Jahre [zwischen dem Ende der Sowjetunion 1991 und der Annexion der Krim 2014] in Freiheit gelebt haben, wollen nicht länger in diesem Gefängnis leben.“

[Der Autor]
Hanno Schedler ist Referent für Genozid-Prävention und Schutzverantwortung bei der Gesellschaft für bedrohte Völker.