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Krieg im Sudan: “Dieses Land gehört uns!”

Von Sarah Reinke

Eine Spirale der Gewalt zieht den Sudan und seine Bewohner*innen immer tiefer ins Unglück. Einige Ursachen für die klaffenden Gräben zwischen den Bevölkerungsgruppen reichen bis zurück in die Kolonialzeit. Doch mutige Frauen reichen einander die Hände und arbeiten an einer Zukunft ohne Hass, Hetze und Rassismus.

Am 15. April 2024 demonstrieren Menschenrechtsaktivist*innen der Gesellschaft für bedrohte Völker vor dem Auswärtigen Amt in Berlin für den Sudan. Foto: GfbV.

„Dieses Land gehört uns!” Unter diesem Slogan erinnerten Sudanes*innen weltweit – auch im Sudan selbst – am 6. April 2024 an die Revolution fünf Jahre zuvor: Nach einem fünftätigen Sitzstreik in der Hauptstadt Khartum musste damals der Langzeit-Diktator Omar al-Bashir Mitte April 2019 zurücktreten. Es war der größte Erfolg der Revolution. Doch dann nahm eine schwierige Übergangsperiode, die zu demokratischen Neuwahlen führen sollte, ihren Anfang. Sie eskalierte stattdessen vorerst im aktuellen Krieg, der am 15. April 2023 begann.
„Dieses Land gehört uns!“ reklamiert den Sudan für jene, die 2019 die Revolution getragen haben: für die vielfältige und engagierte sudanesische Zivilgesellschaft. Gerade auch Frauen setzten sich friedlich für einen Wandel ihres Landes ein. Und doch ist dieses „uns“ in der jüngsten Geschichte des Sudan umstritten. Wer gehört dazu? Wer wird ausgeschlossen? Welche Stimme hat Gewicht? Welche Stimme verstummt? Warum bin ich dabei, warum nicht? Unterschwellig schwingen diese Fragen immer mit – ob bei der Wohnungs- oder Jobsuche im Alltag, oder aktuell im Krieg mit seinen furchtbaren Verbrechen.
Ausgrenzung, Rassismus und Diskriminierung entlang ethnischer und religiöser Linien sind bis heute maßgeblich für den Verlauf eines Lebens im Sudan. Bestimmt werden diese Faktoren von Herkunft, Bildung, Einkommen und den Fragen, woher im Sudan man kommt, ob man in einer Stadt oder fernab auf dem Land aufgewachsen ist, welche Zugänge zu Ressourcen und Netzwerken man hat, ob man Mann oder Frau ist. Gruppen und Einzelpersonen versuchen, genau diese Spaltungen zu überbrücken – selbst unter den Bedingungen des Kriegs. Sie sind davon überzeugt, dass die Dekolonisierung der sudanesischen Gesellschaft die Grundlage ist, um einen friedlichen und demokratischen Staat aufzubauen.

Zusammenleben im Vielvölkerstaat Sudan

Mehr als 500 ethnische Gruppen leben im Sudan. Sie sprechen mehr als 400 unterschiedliche Sprachen. Etwa 70 Prozent der Bürger*innen werden als sudanesische Araber*innen beschrieben. Schwarze Menschen bilden eine Minderheit von rund 30 Prozent, unter ihnen Fur, Beja, Nuba und Fallata. Die Grenzen zwischen den ethnischen Gruppen waren eine Zeit lang durch Heirat und Zusammenleben immer stärker verschwommen. Doch durch politische Manipulation und religiösen Extremismus in den vergangenen Jahrzehnten wurden diese Grenzen wieder aufgebaut und die Gruppen gegeneinander gehetzt. Das hatte fatale Konsequenzen – und hat es bis heute.
Eine der Ursachen für diese starken Spaltungen und Feindschaften, die zu Gewalt, Krieg und Hass führen, liegt weiter zurück als die vergangenen Jahrzehnte. Es ist die Kolonialgeschichte des Sudan: „Die Geschichte der ethnisch begründeten Ausgrenzung geht zurück bis zu dem Moment, als ein arabischer Muslim zum ersten Mal seinen Fuß auf das Land setzte und sie wurde durch die türkische Kolonialisierung, den Staat des Mahdi und dann durch die Briten (1899 – 1956) sowie das anglo-ägyptische Kondominium [gemeinschaftlich ausgeübte Herrschaft mehrerer Herrschaftsträger über ein Gebiet; Anm. d. Red.] weitergeführt“, heißt es in dem Report „Voices of the Margins“ (dt.: Stimmen aus den Randbereichen). Die Frauenrechtsorganisation „Bana Group for Peace and Development“ (dt.: Bana-Gruppe für Frieden und Entwicklung) hatte ihn 2021 erstellt und dafür Interviews mit mehr als 100 mehrfach marginalisierten Frauen geführt [Frauen, die beispielsweise aufgrund ihres Geschlechts und ihrer Hautfarbe/Ethnie ausgegrenzt werden; Anm. d. Red.].
Während vor der Kolonialisierung auf dem Gebiet des heutigen Sudan verschiedene Sultanate und Königreiche vertreten waren, zogen die Kolonialmächte neue Grenzen. Bis circa 1882 kontrollierte Ägypten weite Gebiete des Sudan. Gegen diese ägyptische Besatzung kämpfte von 1881 bis 1889 der „Mahdi-Aufstand“ unter dem islamischen Anführer Muhammad Ahmad. Daraus ging das „Kalifat von Omdurman“ hervor, welches jedoch schon 1889 durch eine ägyptisch-britische Streitmacht besiegt wurde. Danach wurde der Sudan zur britischen Kolonie.
Die Briten beherrschten den Sudan gemeinsam mit Ägypten in einem anglo-ägyptischen Kondominium, wobei Ägypten nicht gleichberechtigt war. Die hohen Posten in Politik und Verwaltung waren von Briten besetzt, die niederen Ränge von Ägyptern. Zusätzlich etablierten die Briten eine „indirekte Kontrolle“ im ganzen Land, das heißt, sie übergaben die Macht lokal an Anführer verschiedener Bevölkerungsgruppen, die wiederum ihr Land regierten. So entstand wie in anderen Kolonien auch hier die koloniale Politik des „Teile und Herrsche“, die im Sudan tiefe Spuren hinterlassen hat.
Zudem forcierten die Briten die Teilung des Sudan in Nord und Süd. Im Norden trieben sie die Islamisierung und Arabisierung voran, führten ein staatliches Schulsystem ein und verlegten Eisenbahnlinien, um die wertvollen Rohstoffe des Sudan in Richtung Küste zu schaffen und so leichter ausbeuten zu können. Die bis heute wichtige Hafenstadt Port Sudan entstand. Den Süden des Landes hielten die Briten dagegen für nicht ausreichend „entwickelt“, um ihnen zu nutzen. Hierher kamen christliche Missionare, es entstanden christliche Schulen. Der Zugang zu Bodenschätzen war nicht vorgesehen, auch nicht in der Region Darfur.
Die heutige Hauptstadt des Sudan, Khartum, wurde 1821 als Marktplatz für den Handel mit Sklav*innen gegründet. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts waren zwei Drittel der Bevölkerung Khartums Sklav*innen. Insgesamt war der Sudan eines der Gebiete, wo die meisten Menschen versklavt wurden. Sklav*innen wurden vom Norden in den Süden des Landes, aber auch nach Ägypten, in den Nahen Osten sowie in die Mittelmeerregion verkauft. Auch später war der Handel mit Menschen immer wieder ein Problem.
Ab Mitte der 1990er und Anfang der 2000er Jahre beteiligte sich die schweizerische Organisation „Christian Solidarity International“ (dt.: Christliche Solidarität international) an umstrittenen Freikäufen von Sklav*innen im Sudan. Kritik dafür kam unter anderem von einer Organisation der Dinka, einer Bevölkerungsgruppe, deren Angehörige oft Opfer von Menschenjagden und anschließender Versklavung wurden. Sie hielt die Programme für kontraproduktiv, da so Verbrechen belohnt und Menschenhandel-Strukturen finanziell gestärkt würden.
Auch im aktuellen Krieg sollen beispielsweise in Darfur wieder Frauen und Kinder in Ketten gelegt, auf Fahrzeugen der Rapid Support Forces weggebracht und an anderen Orten verkauft worden sein. Die Rapid Support Forces (dt.: Schnelle Unterstützungskräfte; RSF) sind eine paramilitärische Gruppe, die früher Diktator al-Bashir unterstand. Sie ging aus der muslimischen Dschandschawid-Miliz hervor, die in Darfur ab 2003 für schwerste Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen verantwortlich war. Kommandeur der RSF ist Mohammed Hamdan Dagalo. Er und seine RSF versuchen aktuell, im Krieg die Kontrolle über den Sudan zu erlangen.

Ein Land kommt nicht zur Ruhe

Nach der Unabhängigkeit 1956 begann eine Zeit der verheerenden Bürgerkriege und Militärdiktaturen im Sudan. Nur kurze Zeitspannen zwischen 1956 bis 1958, 1964 bis 1969 und 1985 bis 1989 waren relativ friedlich. Doch diese kurzen Abschnitte zwischen Kriegen und Diktaturen waren nicht lang genug, um die Marginalisierung weiter Regionen und den Rassismus gegen Menschen dunkler Hautfarbe zu überwinden. Die unterschiedlichen Machthaber, zuletzt massiv Omar al-Bashir, schürten durch Völkermord, Vertreibung und Krieg den Hass zwischen den Bevölkerungsgruppen.
Wie sich dies auf Frauen, insbesondere auf mehrfach marginalisierte Frauen, bis heute auswirkt, untersuchten die Autorinnen der bereits erwähnten Studie „Voices of the Margins”. Dafür werteten sie Interviews mit 129 Frauen aus. Mehr als 60 Prozent der Gesprächspartnerinnen gaben an, dass sie von ethnischer und/ oder rassistischer Diskriminierung betroffen waren oder sind. Das war der größte Anteil unter ihnen. Der zweithöchste Anteil waren mit mehr als 30 Prozent Frauen, die geschlechtsspezifische Gewalt erlebt haben.
Der Rassismus hat viele Formen. So werden Frauen zum Beispiel gedemütigt, weil Arabisch nicht ihre Muttersprache ist. Dies hat zur Folge, dass sie weder die ihnen zustehende Schulbildung, noch einen entsprechenden Beruf finden, beziehungsweise der Zugang zum Arbeitsmarkt überhaupt durch Rassismus geprägt ist. Anlass für die Studie der „Bana Group“ war eine konkrete Situation während der Revolution: „Wir nahmen am Sit-In vor dem Hauptquartier der Armee teil. Eine Begebenheit führte zu einer intensiven Diskussion: Es war verabredet gewesen, dass wir auf der Hauptbühne sprechen sollten. Doch als wir kamen, war da eine lange Schlange und am Schluss wurde unsere Rede gestrichen. Einige der Organisatoren erklärten, dass das Programm chaotisch gewesen sei, dass es Missverständnisse gegeben habe und technische Herausforderungen. Doch manche von uns haben sich danach gefragt, ob nicht doch die Tatsache, dass die meisten von uns „nicht-arabische” Frauen sind, der wahre Grund für die Absage war“ (Voices of the Margins, 2021, S. 12).
Nur, wenn die Stimmen auch jener Frauen, die marginalisiert werden, Eingang in einen Prozess hin zu politischen Reformen finden, kann solch ein Prozess gelingen, finden die Autorinnen der Studie. Der Bericht war als Beitrag für den Übergangsprozess zwischen Revolution und dem Aufbau eines demokratischen Staates gedacht gewesen. Dann machte der Krieg seit April 2023 den Menschen im Sudan wieder einen Strich durch die Rechnung.
Die Kernkonflikte des Sudan – wie Kriege, Rassismus und Hass – bedingen und verstärken sich gegenseitig. Die Kriege der vergangenen Jahrzehnte waren besonders von ethnischer Gewalt gegen „Afrikaner*innen“ geprägt. Durch die Kriege wurde dieser Rassismus nochmals stärker, genauso wie der Hass zwischen Schwarzen Menschen und solchen, die sich als Araber*innen sehen.
„Wir sind die Frauen des Sudan. Das bedeutet, wir sind stark,“ erklärt die Menschenrechtsverteidigerin Mai Ali Shatta. Sie und die vielen anderen, die sich während der Revolution 2019 in den Nachbarschaftskomitees, in kleineren und größeren NGOs organisiert haben, geben nicht auf. Auch während des laufenden Kriegs versuchen sie, einander, Überlebenden etwa von Vergewaltigungen und jenen, die es bis in Flüchtlingslager im Tschad oder anderen Staaten geschafft haben, zu helfen. Sie nähren die Hoffnung, dass sich durch ihre gegenseitige Unterstützung, die Solidarität untereinander, durch Heilung und Gespräch von unten eine dekolonisierte, gleichberechtigte Gesellschaft aufbaut. Sie wollen endlich die Folgen der Kolonialisierung und von Jahrzehnten des Kriegs und Völkermords, Hasses, der Gewalt und des Rassismus überwinden.

[Die Autorin]
Sarah Reinke ist Teamleiterin der Menschenrechtsreferate bei der Gesellschaft für bedrohte Völker.