Krieg in Ambazonien
Seit 2016 kämpfen im Nordwesten Kameruns Separatisten gegen die Regierungskräfte. 2017 riefen sie eine eigene Republik „Ambazonien“ aus, die weltweit kaum jemand kennt, geschweige denn anerkennt. Mehr als 3000 Menschenleben hat dieser Konflikt schon gefordert und mindestens 700.000 Menschen sind aus ihrer engeren Heimat geflohen. Das ganze Unheil hat seinen Ursprung in der kolonialen Geschichte Kameruns im 20. Jahrhundert und dem Scheitern des Föderalsystems 1972. Nach dem Ersten Weltkrieg war Kamerun zwischen Großbritannien und Frankreich aufgeteilt worden. Beide Kolonialmächte drückten ihren jeweiligen Mandatsgebieten ihren kulturellen Stempel auf: im Nordwesten wurde Englisch zur Amtssprache, sein Rechts- und Bildungssystem orientierte sich am britischen System.
Im restlichen Kamerun prägte Frankreich den Staatsaufbau, das Recht und die Bildung. Mit der Unabhängigkeit Kameruns 1960/61 vereinigten sich die beiden Teile unter der Voraussetzung der Bildung eines Föderalsystems mit zwei gleichberechtigten Amtssprachen. Doch die Machtelite des französisch geprägten Süden und Ostens setze sich durch, setzte auf Zentralisierung, diskriminierte den englischsprachigen Nordwesten und schaffte schließlich den Bundesstaat ab. Das musste zum Konflikt führen, der immer noch andauert. Wenn ein Föderalsystem mit zwei ungleichen Partnern nicht funktioniert, böte sich eine Alternative an, die anderswo gut funktioniert: eine Sonder-Autonomie für den Nordwesten.
Die älteste Territorialautonomie wird im Juni 2021 100
Erfahrungen mit Territorialautonomie gibt es schon ein Jahrhundert lang. Am 24. Juni 1921 beschloss der Völkerbund in Genf eine Sonderlösung für die schwedisch besiedelten Åland Inseln, die zu Finnland gehören. Ende 1917 hatten sich zwar fast alle Åländer für die Vereinigung mit Schweden ausgesprochen, doch der Völkerbund beließ es bei der finnischen Souveränität über Åland. Die schwedische Sprache und Kultur sollten geschützt bleiben, die Bewohner sich selbst regieren und der ganze Archipel neutralen und demilitarisierten Status erhalten. Drei Tage später hießen Finnland und Schweden diesen Kompromiss offiziell gut. Am 9. Juni 1922 trat der frei gewählte Landtag (Lagting) erstmals zusammen. Deshalb feiert Åland vom Juni 2021 bis zum 9. Juni 2022 „Hundert Jahre Autonomie“.
Ålands Autonomie gehört heute zu den umfassendsten aller heute bestehenden rund 60 Territorialautonomien. Auf Åland ist nur Schwedisch Amtssprache, das Bildungssystem einsprachig, die Staatssprache ein Wahlfach. Schon daran wird erkennbar, dass Åland einen Sonderfall unter den autonomen Regionen bildet, die ansonsten meist mehrsprachig sind. Die Inseln sind komplett demilitarisiert, Polizei, Post Rundfunk-TV sind Landessache. Åland hat nicht nur einen eigenen Sitz im Nordischen Rat auf Augenhöhe mit den skandinavischen Staaten, sondern mit dem hembygdsrätt (Heimatrecht) auch eine Art Regionalbürgerschaft. 1951 und 1991 ist die Åland -Autonomie weiterentwickelt worden, und eine weitere Reform steht derzeit an. Doch heute schon genießt Åland Rechte von der andere autonome Regionen nur träumen können.
Was ist überhaupt Territorialautonomie?
Territorialautonomie ist eine Form der Organisation staatlicher Machtverteilung primär zur Regelung des Verhältnisses zwischen Zentralstaat und einer oder wenigen besonderen Teilgebieten. Beim Staatsaufbau spricht man heute vom Mehrebenensystem, vor allem in Bezug auf die EU mit ihren vier Ebenen der Gesetzgebung und Verwaltung. Doch in den meisten der Erde gibt es kein Mehrebenensystem, im besten Fall nur zwei: den Zentralstaat und eine substaatliche Ebene der Kreise oder Kommunen. Mit Ausnahme der weltweit 24 Staaten, die eine bundesstaatliche Verfassung haben, gibt es die Zwischenebenen der Regionen mit Gesetzgebungshoheit nur in Ausnahmefällen. Auch Territorialautonomie als Ausnahmeregelung ist nur relativ selten zur Anwendung gelangt, nämlich in etwa 70 Fällen in 25 Ländern, wobei einige frühere Autonomiesysteme heute nicht mehr bestehen. Das bestimmende Staatsmodell ist immer noch der Einheitsstaat, und im Jahr 2020 nur in 110 Fällen mit einem demokratischen System (Freedomhouse, 2021). Trotz der guten Ergebnisse von Dezentralisierung, Subsidiarität und Regionalisierung bleibt die Bereitschaft der Zentralstaaten, Entscheidungsmacht an die Peripherie abzugeben, recht gering.
Der ursprüngliche Sinn und Zweck von Autonomie: Minderheitenschutz
Der Schutz von sprachlichen und ethnischen Minderheiten liegt weltweit noch im Argen. Indigene Völker sind nicht nur in ihrer Kultur und Lebensweise, sondern oft in ihrer Existenz bedroht, wenn ihnen mit der Verfügung über Land und natürliche Ressourcen die wirtschaftliche Lebensgrundlage entzogen wird. Sprachminderheiten in Industrieländern fehlt oft der rechtliche Rahmen, um umfassenden Schutz und Weiterentwicklung zu gewährleisten. Dass allein Sprachenrechte und ein individuelles Diskriminierungsverbot den nötigen Schutz der Minderheitensprachen nicht bieten können, ist erwiesen. Erst kollektive Schutzmechanismen auf dem angestammten Siedlungsgebiet bieten den Rahmen für volle Gleichberechtigung mit den dominanten Sprachen bzw. der Staatssprache. Diesen Rahmen bildet z.B. ein eigener Gliedstaat eines Bundesstaats, aber auch eine Territorialautonomie, in welcher mehrere Sprachen als gleichberechtigte Amtssprachen anerkannt werden. Autonomie wird auch deshalb als Königsweg des Minderheitenschutzes angesehen, weil die Multiplizierung von Staaten nicht die Lösung sein kann, der kulturellen Vielfalt gerecht zu werden. Es gibt weltweit zwischen 3.000 und 5.000 lebendige Sprachen. Um allein der Mehrheitsbevölkerung von Regionen mit solchen Sprachen kulturelle Eigenständigkeit zu verschaffen, müssten zu den bestehenden 195 Staaten mindestens 525 weitere Staaten geschaffen werden (Stephen Ryan, 1997, 2). Territorialautonomie ohne Sezession ist eine gangbare Alternative, allerdings nur dann, wenn sie so ausgestaltet ist, dass Kultur, Sprache, Lebensweise, Identität und wirtschaftliche Lebensgrundlagen der betroffenen Minderheit oder des kleineren Volks auf Dauer geschützt sind.
Der Nebeneffekt: mehr Demokratie und Selbstregierung
Autonomie bringt die politische Macht näher zu den Bürgern und Bürgerinnen. Damit wird ein Raum für regionale Demokratie begründet, in welcher Bürgerbeteiligung und Kontrolle von unten weit besser funktionieren als in Einheitsstaaten ohne Regionen oder Bundesländer mit Gesetzgebungshoheit. Autonomie verschafft besonderen Regionen mehr politische Eigenständigkeit und erlaubt die Selbstregierung der Bevölkerung einer Region, die dennoch rechtlich und politisch in den Staatsverband integriert bleibt. Ohne Demokratie kann man von keiner echter „Eigengesetzgebung“ (autos, nomos) sprechen. Doch wo mehrere ethnisch-sprachliche Gruppen zusammenleben – und das ist in der Mehrheit der heute autonomen Regionen der Fall – muss gemeinsam regiert werden: Konkordanzdemokratie ist das aus der Schweiz stammende Schlagwort, das dort nicht so sehr aus ethnischen, sondern aus urdemokratischen Gründen seit der Staatsgründung 1848 angewandt wird. Das sorgt für den nötigen demokratischen Ausgleich und verhindert, dass Territorialautonomie zu einem ethnisch exklusiven Raum wird, also zum ethnischen Reservat.
Autonomie hat sich weltweit bewährt
In den meisten der seit 1921 geschaffenen autonomen Regionen hat sich diese besondere Form der Machtteilung zwischen einer Region und dem Zentralstaat bewährt. Nur wenige dieser Regionen streben heute die Loslösung vom Zugehörigkeitsstaat an, weil Autonomie in einem Prozess nationaler Emanzipation nicht mehr reicht wie Katalonien, Schottland und Irakisch-Kurdistan. Wenn auch nicht ohne Konflikte so hat sich Autonomie als Instrument der Konfliktlösung und des Minderheitenschutzes bewährt. Doch Autonomie muss auch neuen Anforderungen angepasst werden, wie in Südtirol, wo der Reformbedarf schon seit Jahren klar auf dem Tisch liegt.
Territorialautonomie wird in seinem Potenzial, offene innerstaatliche Konflikte zu lösen und Minderheiten zu schützen immer noch stark unterschätzt. Weltweit haben sich erst 19 Staaten durchgerungen, einen solchen Sonderstatus zuzulassen. Drei Viertel der Staaten kennen überhaupt keine Dezentralisierung. Die dominierende Form ist immer noch der Einheitsstaat. Auf dem Hintergrund zentralistischer Staatsdoktrinen der meisten Staaten steht Autonomie unter dem Generalverdacht, der erste Schritt zur Sezession zu sein. Das ist geschichtlich widerlegt.
Heute kämpfen zahlreiche Minderheiten oder ganze Regionalgemeinschaften um ein Mindestmaß an Territorialautonomie, wie etwa Korsika mit seiner seit 2015 klar autonomistischen Mehrheit, und das vor allem von Ungarn besiedelten Szeklerland in Rumänien. Doch weder in Paris noch in Bukarest will man von Autonomie etwas wissen. Für gewaltsam ausgetragene Konflikte wie in Ambazonien (Kamerun), Pattani (Thailand), Westpapua (Indonesien) und Rojava (Syrien) wäre Territorialautonomie die optimale Lösung.
Beispiele von innerstaatlichen Konflikten, die sich mit Autonomie lösen ließen
In zahlreichen Staaten gibt es derzeit mit militärischer Gewalt ausgetragene Konflikte zwischen der Staatsregierung und regionalen Gemeinschaften, kleineren Völkern oder nationalen Minderheiten (vgl. WIKIPEDIA: List of ongoing armed conflicts). So werden die für 2019 und 2020 registrierten bewaffneten Konflikte mit mehr als 100 Opfern in Kamerun, Süd-Thailand, Ukraine, Türkei, Mali, Indien, in der DR Kongo und in Angola durch ethnische Spannungen und Sezessionsbestrebungen verursacht. In solchen Krisenregionen vermischt sich oft die politische Auseinandersetzung um mehr Rechte für ein Teilgebiet mit gewaltsamen Protesten radikalisierter Aufständischer und terroristischer Gewalt gegen den Staat, der gewaltsam zurückschlägt. Auch in Europa gibt es immer noch ethnisch motivierte Gewalt, wie z.B. im Fall des Donbas-Beckens in der Ostukraine, die zudem von außen geschürt wird. Daneben streben mehrere Regionen auf politischer Ebene Territorialautonomie an, während andererseits auch bestehende autonome Regionen einen Selbstbestimmungsprozess mit dem Ziel der Eigenstaatlichkeit eingeleitet haben.
Diese Konflikte sind oft auf die systematische Diskriminierung und langjährige Unterdrückung ganzer Volksgruppen und indigener Völker zurückzuführen. Einige Konflikte haben ihre Wurzel in der neokolonialen Strategie jener Staaten, die die europäischen Kolonialmächte beerbt haben wie z.B. im Fall von Marokko, Indonesien, Indien, Kamerun und Chile, ohne das vom Völkerrecht vorgesehene Selbstbestimmungsrecht kleinerer Völker zu beachten. Andere Konflikte sind auf die hochgradig zentralistische Struktur des Staats mit einer nationalistischen Staatsdoktrin zurückzuführen, die kleineren Völkern und ethnischen Minderheiten jegliche Anerkennung, Schutz und Sonderrechte verwehrt (Thailand, Syrien). Klassisches Beispiel für eine derartige Politik seit fast 100 Jahren ist die Türkei. Auch europäische Staaten verharren in einer Doktrin des zentralistischen Nationalstaats ohne echte Anerkennung für ethnische Minderheiten wie Frankreich und Rumänien.
Sind nun bestehende Autonomie-Regelwerke auf andere, zum Teil ähnlich gelagerte Konfliktlagen übertragbar? Kann Territorialautonomie als Lösung für offene Konflikte zwischen einem Staat und einer seiner Regionen oder nationalen Minderheiten, die in kompakter Form in ihrem angestammten Gebiet leben, angewandt werden? Es ist legitim, Hypothesen darüber zu entwickeln,
1. ob in einem bestimmten politischen Kontext Territorialautonomie anwendbar ist;
2. welche Grundeigenschaften eine solche Autonomie im konkreten Fall haben sollte, um den offenen Konflikt zu lösen;
3. welche erfolgreichen Einzelelemente (Regelungen) bestehender Territorialautonomien auf den in Frage stehenden Konfliktfall übertragen werden könnten.
Welche Verfahren, Institutionen, Regelungen im jeweiligen Konfliktfall angewandt werden kann und soll, muss genau geprüft werden, wobei es den Konfliktparteien – dem Zentralstaat und der betroffenen Region bzw. Minderheit oder Volk – naturgemäß nicht erspart bleibt, die unzähligen Einzelheiten einer für den Einzelfall passenden Autonomielösung auszuhandeln.
Bei einigen dieser schwelenden Konfliktherde kommt Territorialautonomie als dauerhafte Konfliktlösung konkret in Frage. Dies nicht etwa als bloß theoretisch-akademische Überlegung, sondern aufgrund des Umstands, dass eine der Konfliktparteien Territorialautonomie fordert oder der Staat eine solche Autonomie als Ersatz für die Sezession anbietet. In einigen wenigen Fällen hat der Staat bereits eine funktionierende Territorialautonomie für andere Minderheitenregionen eingerichtet, dasselbe in ähnlich gelagerten Fällen jedoch verweigert (Indonesien, Philippinen, Frankreich, Indien). Für eine ganze Reihe von heutigen Konfliktgebieten steht Territorialautonomie auch deshalb konkret zur Diskussion, weil
– Territorialautonomie in anderen Teilen des betroffenen Staats bereits erfolgreich angewandt wird;
– Autonomie zumindest von den Vertretern einer der Konfliktparteien begrüßt wird;
– Sezession nicht in Frage kommt, weil diese in multiethnisch besiedelten Regionen zu verstärkten interethnischen Spannungen und Gewalt führen würde;
– Grenzveränderungen zu internationalen Verwerfungen mit Nachbarstaaten führen könnten.
Territorialautonomie setzt natürlich in all diesen Fällen einen demokratischen Rechtsstaat voraus. In Diktaturen und autoritär regierten Staaten könnte ein Autonomie-Arrangement zwar die Gewalt beenden, eine demokratische Regionalautonomie wäre per definitionem nicht möglich. Demokratie auf Staatsebene wie auf regionaler Ebene bleibt für eine echte Territorialautonomie unverzichtbar. Neben der verfassungsrechtlichen Verankerung von Autonomie wäre es aufgrund historischer Erfahrungen sehr hilfreich, die Autonomie auch völkerrechtlich abzusichern, etwa indem ein Nachbarstaat oder eine internationale Organisation (EU, Europarat, AU, OAS, ASEAN, Arabische Liga) eingebunden wird.
Weitere Beispiele für offene innerstaatliche Konflikte zwischen der Zentralregierung einerseits und einem kleineren Volk oder einer nationalen Minderheit, die kompakt in ihrem angestammten Gebiet siedelt, finden sich in mehreren weiteren Staaten. Verhandlungen zur Konfliktlösung in diesem Sinne sind besonders in jenen Fällen dringend, wo weitere Gewalt von beiden Seiten und Blutvergießen drohen. Territorialautonomie kann als typische Kompromisslösung in derartigen Selbstbestimmungskonflikten bezeichnet werden: die Eigenständigkeit begehrende Region oder ethnische Gemeinschaft verzichtet auf Sezession; der Staat verzichtet auf die zentrale politische Steuerung und Kontrolle des Gebiets, nicht jedoch auf seine Souveränität. Insgesamt lässt sich beobachten, dass das Konfliktlösungspotenzial von Autonomie unterschätzt wird, während die Gefahr, Territorialautonomie könnte der erste Schritt zur Unabhängigkeit sein, überschätzt wird. Internationale Organisationen könnten in diesen Fällen sowohl in der Schlichtung als auch als Garantiemächte einer vereinbarten Autonomielösung eine wichtige Rolle übernehmen.
Chancen für Territorialautonomie im 21. Jahrhundert
Seit 100 Jahren kommt Territorialautonomie in allen Kontinenten zur Anwendung, allerdings mit rund 60 autonomen Regionen in 19 Staaten (Stand 2021) in relativ beschränkter Zahl. Trotz vieler ethnisch bedingter innerstaatlicher Konflikte ist Territorialautonomie somit auf globaler Ebene bisher überraschend selten zum Einsatz gekommen. In einigen Ländern steht die Loslösung von bisher autonomen Regionen auf der Tagesordnung, in anderen streben regionale Gemeinschaften bisher erfolglos Territorialautonomie an. Das Konzept der Territorialautonomie hat in den ersten 100 Jahren seiner Anwendung zahlreiche Konflikte dauerhaft lösen können, indem Minderheitenschutz mit interner politischer Selbstbestimmung (Gesetzgebung und Verwaltung) kombiniert wurde, ohne Staatsgrenzen zu verändern. In den meisten der heute rund 60 autonomen Territorien weltweit gibt es keine politischen Mehrheiten für die Abspaltung und Eigenstaatlichkeit dieses Gebiets.
Nicht nur Staaten sind in die Pflicht gerufen, den Erfahrungsschatz der Territorialautonomie auszuwerten und Autonomie in verschiedener Form zum Schutz ihrer Minderheiten in Betracht zu ziehen. Auch die Staatengemeinschaft und die verschiedenen Regionalorganisationen sind aufgerufen, Territorialautonomie stärker in den Blick zu nehmen. Ein internationales Abkommen zum Recht auf Autonomie könnte präzise festlegen, unter welchen Umständen Völkern oder ethnisch bestimmten Regionalgemeinschaften das Recht auf interne und externe Selbstbestimmung zusteht und in welchen Fällen eine international verankerte Territorialautonomie die passende Lösung ist.
Zwei wesentliche Hindernisse für die Einführung von Territorialautonomie zwecks Minderheitenschutz lassen sich auf dem Hintergrund der ersten 100 Jahre moderne Autonomie deutlich erkennen. Es ist zum einen der im jeweiligen Staatsverständnis tief verwurzelte und meist verfassungsrechtlich verankerte und staatlich geförderte Nationalismus, der seine Entsprechung im stark zentralistischen Staatsaufbau findet. Nationalistische Eliten des im jeweiligen Staat dominierenden Mehrheitsvolks betrachten sowohl Föderalismus als auch Territorialautonomie mit größtem Misstrauen und verweigern die rechtliche Anerkennung kleinerer oder indigener Völker und ethnischer Minderheiten. Weit verbreitet ist das Phänomen des „banalen Nationalismus“ der Staaten, der die Autonomiebewegungen von Minderheiten als nationalistisch und rückwärtsgewandt diskreditiert, jedoch die strukturelle Dominanz des Staatsvolks auf allen Ebenen ausblendet.
Zum anderen bildet die in vielen Staaten verbreitete Befürchtung ein Hindernis, dass Territorialautonomie den ersten Schritt zur Selbstbestimmung bedeute und langfristig die Sezession dieses Teilgebietes befördere. Im Licht der bisherigen 100 Jahre seit Einführung der ersten Autonomie auf Åland entbehrt diese Befürchtung der Grundlage. Autonomie hat nur in relativ wenigen Fällen nachfolgend zu einem weiterführenden Prozess nationaler Emanzipation und der Forderung nach Selbstbestimmung geführt. Das beste Rezept dagegen ist Vertrauensbildung zwischen Staat und Minderheiten sowie rechtliche Vorkehrungen, um Selbstbestimmungsforderungen auszuschließen, solange die staatlichen Verpflichtungen eingehalten werden und substanzielle Selbstregierung gewährleistet wird. Mit einer klaren Verankerung von Minderheitenrechten und Autonomiekonzepten hätten viele Konflikte verhindert werden können. In diesem Sinne wäre die Staatengemeinschaft aufgerufen, Minderheitenrechte noch besser zu kodifizieren und Territorialautonomie als eine „innere Form der Selbstbestimmung“ verfassungs- und völkerrechtlich zu regeln.
Weder Åland noch Südtirol noch andere Territorialautonomien können für sich beanspruchen, eine Blaupause zu bieten, die auf alle Konfliktfälle übertragbar wäre. Jedes Autonomiestatut ist auf den speziellen Fall zugeschnitten, jede ein Sonderfall mit speziellen Antworten auf spezielle Problemlagen. Dennoch tritt aus den bisherigen Erfahrungen ein klares Grundmuster hervor. Es muss gelingen, einen Ausgleich zwischen Zentralstaat und Minderheiten zu finden, und innerhalb der autonomen Region Konkordanz und Grundkonsens zu finden. Minderheitenschutz als Grundwert, innerstaatliche Vertrauensbildung, ein demokratischer Rechtsstaat, völkerrechtliche Absicherung, wie in Åland vorhanden, wären als Kontext optimal. Dann könnten in den nächsten 100 Jahren etwas mehr als 19 Staaten diesen Schritt wagen, denn das Potenzial dieses Instruments zur Lösung von innerstaatlichen Konflikten und zum dauerhaften Schutz von Minderheiten und kleineren Völkern ist bei Weitem noch nicht ausgeschöpft.
Zur Vertiefung:
– Thomas Benedikter (2021), 100 Jahre moderne Territorialautonomie – Autonomie weltweit, LIT, Berlin/Münster, ISBN 978-3-643-25012-4 (br)
– Thomas Benedikter (2012), Moderne Autonomiesysteme – Eine Einführung in die Territorialautonomien der Welt, EURAC, Bozen