Von Madlen Körneke
Kunst erfüllt innerhalb des Sufismus, einer jahrhundertealten mystischen Strömung des Islams, eine wichtige Funktion: Durch sie können Sufis ihr höchstes Ziel – die spirituelle Vereinigung mit Gott – erreichen. Die in Orden organisierten Sufi-Gemeinschaften sind für ihre kunstvollen Rituale bekannt. Doch als Touristenattraktion und durch einen Egoismus fördernden Kunstmarkt bewegen sich Sufis in einem ständigen Spannungsfeld.
„Der Sufismus ist in wenigen Worten schwer zu beschreiben. Er ist ein Lebensweg und es dauert lange, bis man davon ein bisschen mehr verstanden hat und noch viel länger, bis man ihn wirklich praktizierend durchs Leben nimmt“, erklärt Süleyman Bahn. Der gebürtige Österreicher hat sich vor etwa 50 Jahren auf diesen Lebensweg begeben und ist mittlerweile Scheich einer Sufi-Gemeinschaft in Nürnberg.
In einem Interview am 28. Dezember 2022 hat er mit uns über die Verbindungen zwischen Sufismus, Kunst und Spiritualität gesprochen. Der Sufismus ist eine jahrhundertealte mystische Strömung im Islam. Sie ist in unterschiedlichen Orden organisiert. Ihre Anhänger*innen werden auch Sufis oder Derwische genannt. Der Mevlevi-Orden, dem Bahn angehört, geht auf den berühmten islamischen Dichter und Mystiker Hazreti Mevlânâ Rûmî (Lebzeiten etwa von 1207 bis 1273) zurück. Als höchstes Ziel auf dem Weg der Sufis wird die spirituelle Vereinigung mit Gott gesehen.
Kern dieser Vereinigung ist die erwartungslose und hingebungsvolle Liebe zu Gott, die direkt zu ihm führt. Musik, Poesie, Singen, Meditationen sowie rhythmische Tänze sind für diese spirituelle Vereinigung von großer Bedeutung: In der Ekstase kommen Sufis Gott immer näher und verschmelzen schließlich mit ihm. Auf dem Weg zum höchsten Ziel spielt zudem eine asketische Lebensweise eine wichtige Rolle.
Damit verbunden ist die innere Reinigung der Egos beziehungsweise der durch Egoismus, Erziehung oder Konditionierung hervorgebrachten Erscheinungsformen des künstlichen Selbst. Erst dann ist der Sufi zur völligen inneren Hingabe fähig und kann Gott direkt erkennen. Süleyman Bahn hat den Sufismus als Inhalt und Sinn seines Lebens gewählt. In den 1970er Jahren konvertierte er zum Islam, als er auf einer Urlaubsreise im türkischen Wallfahrtsort Konya Vertreter*innen des Sufismus begegnete. Diese haben ihn stark berührt. Bahn wurde schließlich Schüler eines Scheiches des Mevlevi-Ordens in der Türkei, von dem er zwölf Jahre lang lernte. Im Jahr 1990 gründete er den deutschen Zweig des Ordens in Nürnberg.
Die Kunst als Werkzeug in die Spiritualität
Bahn versteht Kunst als „ein Mittel und ein Werkzeug in die Spiritualität. Die Spiritualität ist deswegen nicht Kunst oder umgekehrt muss die Kunst nicht spirituell sein. Aber Kunst hat sehr viele Möglichkeiten, die Spiritualität anzusprechen und stark zu fördern – das ist ihre Funktion innerhalb dieser Traditionen. So hat sich der Derwisch-Tanz herausgebildet.“ Bei diesem Tanz drehen sich die Derwische zu Trommel- und Rohrflötenmusik in weißen Gewändern gegen den Uhrzeigersinn im Kreis. Sie legen vor Beginn des Tanzes ihre schwarzen Umhänge ab, die das dunkle Erdenleben symbolisieren. In ihren weißen Gewändern wollen sie in der göttlichen Liebe aufgehen. Während die rechte Handfläche nach oben zeigt, um den Segen Gottes zu empfangen, weist die linke Handfläche nach unten und gibt den Segen weiter an die Welt. Jede Handlung und jede Bewegung sind bis ins Detail festgelegt.
Laut Bahn hat „dieses Ritual zwar sehr viele künstlerische Aspekte, aber der Inhalt ist rein spirituell. Die Kunst, in dem Fall insbesondere die Musik, hilft dabei, diese Spiritualität zu entfalten. […] Musik macht man, Musik hört man, in der Musik bewegt man sich – das ist etwas anderes als trocken zu reden. Musik ist etwas Lebendiges, insofern wirkt sie auch auf die Spiritualität sehr stark ein.“
Dass Kunst und Spiritualität ineinander verschwimmen, wird ebenfalls durch die wörtliche Bedeutung des Derwisch-Tanzes sichtbar: Er heißt auf Arabisch Sema oder Sama, was übersetzt „Hören“ bedeutet. Bahn führt aus, dass das alleine schon viel über die innere Qualität des Tanzes aussage. „Denn wenn man sich innerhalb dieses Tanzes bewegt, bewegt man sich im In-Sich-Hinein-Hören.“ Hören sei zwar ein sehr passives Wirken im Menschen. Aber zugleich nimmt es innerhalb dieses Wirkens auch eine ganz aktive Position ein, nämlich eine starke Aufmerksamkeit nach innen.
Der Mevlevi-Orden als Orden der Kunstschaffenden
Bahn erzählt, dass „es im Orient, und gerade im Sufismus, Orden gegeben hat, die speziell in bestimmten Berufsbranchen bevorzugt waren. So war der Mevlevi-Orden jener der Künstler.“ Die Schüler dieses Ordens wurden während ihrer Ausbildung in unterschiedlichen Kunstrichtungen stark gefördert. „Wenn man beispielsweise in der Kalligraphie begabt war, dann ist man vor allem in der Kalligraphie-Werkstatt geblieben. Andere Schüler haben wiederum Musikinstrumente oder den Derwisch-Tanz gelernt – jeder gemäß seinen Fähigkeiten.“
Der traditionelle Mevlevi-Orden wurde mit dem Entstehen der türkischen Republik verboten. Doch der Einfluss seiner Kunst auf andere künstlerische Bereiche lässt sich bis heute feststellen. So ist in der Türkei zum Beispiel die Volksliteratur stark von der Sufi-Kunst geprägt. Auch geht laut Bahn „die heutige klassische türkische Musik hauptsächlich auf den Sufismus und die Mevlevi-Musiker zurück. Was wir heute als türkische Kultur kennen, ist in vielfacher Hinsicht reine, spirituelle Sufi-Kultur.“
Bahn sieht zwischen Kunst und Sufismus unter Umständen aber auch eine sehr klare Trennung. Er verdeutlicht dies anhand seiner persönlichen Lebensgeschichte: „Als ich zum ersten Mal in die Türkei gekommen bin, war ich selbst noch Kunstmaler und wollte ein berühmter, moderner Künstler werden. Nach meiner Rückkehr habe ich das Werk, das ich gerade bearbeitete, jedoch nicht fertigstellen können – irgendwie hat etwas nicht mehr gestimmt.
Denn die Kunst in dem Sinne, wie sie vielfach vertreten wurde und wird, widerspricht sehr stark den Ambitionen, die man im Sufismus entwickelt. Das innere Ego hat im Sufismus abzusterben. Auf dem Kunstmarkt wird aber genau das Gegenteil gefordert: Das Ego muss immer stärker und größer werden, um etwas auf den Markt zu bringen. Ich brauche ein gehöriges Paket Ego und Selbstbewusstsein – so ist die Realität in unserer Welt.“
Öffentliche Aufführungen: Zweckentfremdung der Sufi-Rituale oder Brücke zu anderen Religionen
Kunstvolle Sufi-Rituale werden auch öffentlich nach außen getragen. Das wirkt. Diese Wirkung kann sowohl positiv als auch negativ sein. In der Türkei finden Bahn zufolge mittlerweile für wenig Geld laufend öffentliche Vorführungen der Derwisch-Tänze statt. Sie werden von Hotelbetreiber*innen als Touristenattraktion angeboten. Die Spiritualität tritt dabei vollkommen in den
Hintergrund.
Eine ähnliche Zweckentfremdung des Sufismus konnte Bahn teilweise auch bei Menschen beobachten, die sich von den dargebotenen Ritualen angesprochen fühlten und sie selbst praktizieren wollten: „Diese Menschen vergessen dabei oft den spirituellen Inhalt, was dazu führt, dass sich meistens langfristig nicht viel daraus entwickelt.“
In Volkshochschulen konnte man früher sogar Kurse belegen, um den Derwisch-Tanz zu lernen. Die Interessierten hätten dann zwar den Tanz als Spiritualität erlebt – dass die Spiritualität aber ihre Wurzeln im Islam hat, das könne und sollte man Bahns Überzeugung nach auf Dauer nicht ignorieren. Es gehört zum Gesamtwerk dazu, obwohl die Konversion zum Islam für die Mitgliedschaft etwa im Mevlevi-Orden nicht zwingend notwendig ist.
Generell bestehen im Sufismus große Toleranz und Offenheit für andere Religionsgemeinschaften. Aber die Auseinandersetzung mit Inhalten des Islams ist unabdingbar, wenn man sich dem Sufismus annähern möchte. Die öffentliche Aufführung des Derwisch-Tanzes kann auch positive Auswirkungen haben und den Austausch mit anderen Religionen anstoßen. So führt der Mevlevi Orden von Bahn den Derwisch-Tanz einmal im Jahr öffentlich auf: immer am 17. Dezember zum Todestag von Hz. Mevlânâ Rûmî. Dabei sind „gerade die Vertreter von anderen Religionen, insbesondere der spirituelle Anteil dieser Menschen, von dem Tanz sehr angetan und beeindruckt. Und ich bekomme sehr schöne Schreiben, gerade von jüdischer oder buddhistischer Seite.“
Wie Süleyman Bahn gezeigt hat, haben Kunst, Spiritualität und Sufismus sowohl trennende als auch verbindende Elemente. Mit fast 80 Jahren hat er nun nach langer Pause wieder zu seiner Tätigkeit als Künstler zurückgefunden und ein Denkmal für die Stadt Nürnberg entworfen, welches sinnbildlich für die Gemeinsamkeiten der Religionen steht. Der Bau des Denkmals „hat gottseidank mein Ego nicht mehr sehr stark berührt, so wie früher. Und so steht heute wieder ein Kunstwerk von mir mitten in Nürnberg.“
[Die Autorin]
Madlen Körneke studiert Friedens- und Konfliktforschung an der Philipps-Universität in Marburg. Einen ihrer Schwerpunkte legt sie auf Friedenspädagogik und Gender Studies.