Von Sarah Reinke
Göttingen, Bozen, 6. März 2024
Die Fesseln, die der Krim mit der Annexion 2014 umgelegt wurden, schnüren die krimtatarische Bevölkerung immer stärker ein: Politische Inhaftierungen, Propaganda und Desinformation, Unterdrückung jeglicher nicht-russischen Identität prägen den Alltag. Vielen Krimtataren blieb nur die Flucht in die Diaspora übrig – fernab der eigenen Heimat.
„Für die Krimtataren ist die Besatzung der Krim durch Russland eine Frage von Leben oder Tod“, sagt mir Sabina Iliasova, Menschenrechtsaktivistin der Organisation Krim SOS (CrimeaSOS), Ende Dezember 2023. Sie selbst ist nach Belgien geflohen. Auf der Krim wäre sie in Gefahr. Von einem Brüsseler Vorort aus versucht sie, ihre Arbeit weiterzuführen.
„Bei uns Krimtataren geht es um Zahlen“, schildert sie die Situation: „Nur 12 Prozent der Bevölkerung waren vor der Annexion 2014 Krimtataren. Aktuell sind 186 Personen in russischer Haft, davon sind mindestens 116 Krimtataren [Stand Februar 2023; Anm. d. Red.]. Seit 2014 wurden 19 krimtatarische Journalisten verhaftet, 16 von ihnen sind immer noch im Gefängnis. Viele wurden zu 14 oder 15 Jahren Haft verurteilt! Seit dem russischen Angriff 2022 auf die gesamte Ukraine werden auch gezielt unsere Anwälte schikaniert. Etlichen wurde die Lizenz entzogen. Und einen russischen Anwalt für einen krimtatarischen politischen Gefangenen zu finden, ist praktisch unmöglich.“
Echo der Vergangenheit, Schrecken der Gegenwart
Die russische Führung hat gleich nach der Annexion damit begonnen, die Köpfe der krimtatarischen Bewegung zu verfolgen und zu verhaften. „Die Gefängnismauern schneiden dich von deiner vertrauten Welt ab, von deiner gewohnten Umgebung. […] Die Erinnerungen, die du aufbewahrst, veralten. Die Distanz zwischen deiner Vergangenheit und deiner Gegenwart bricht auf und diese Kluft wird immer größer. […] ohne Kommunikation mit der freien Welt entwöhnt man sich von ihr, man vergisst, was es heißt, frei zu sein. Das bedeutet, dass deine Rückkehr in die Freiheit schwieriger wird. Politische Gefangene erhalten nämlich zu lange Haftstrafen, als dass die körperliche und psychische Gesundheit eines Menschen davon unberührt bleiben könnte“, schreibt Nariman Dzhelal, einer der Vizepräsidenten des krimtatarischen Nationalrats Medschlis. Er ist seit 2022 in Haft. Der Vater von vier Kindern soll 17 Jahre absitzen.
Die systematische Verfolgung, die Verdrängung der indigenen Bevölkerung der Krim ist in fast allen Bereichen des Alltags präsent: Vor der Annexion gab es vier krimtatarische Medien: Den ersten krimtatarischen Fernsehsender ATR, die Presseagentur QHA, die Zeitung Avdet und den Radiosender Meydan FM. Nach der Annexion wurden alle verboten, die Journalisten mussten fliehen oder wurden verfolgt. Heute sendet ausschließlich der russlandtreue Sender Millet.
Der russische Rubel ist die Währung auf der Krim, die Uhren gehen nach Moskauer Zeit. Die Lehrbücher in den Schulen sind jene, die in ganz Russland eingesetzt werden. Seit 2023 wird für die elfte Klasse ein neues Geschichtsbuch mit dem Schwerpunkt der russischen Geschichte von 1945 bis heute eingesetzt. Es vermittelt Wladimir Putins Geschichtsbild und dient der Indoktrination der Schülerinnen und Schüler.
Die Lehrkräfte, auch auf der Krim und in den besetzten Gebieten der Ukraine, müssen es nutzen, sonst drohen Schikanen. In dem Buch wird zum Beispiel behauptet, dass sich die Rote Armee bei der Deportation der Krimtataren 1944 maximal bemüht habe, „sicherzustellen, dass die [Deportierten] gut ernährt und gut untergebracht wurden“. Für die Nachfahren der Deportierten ist dies zynisch und ein Echo der gleichlautenden stalinistischen Propaganda.
Vor der Annexion wurden in 16 Schulen insgesamt 384 Klassen auf Krimtatarisch unterrichtet. 2021 waren nach Angaben von Eskender Barijew, dem Vorsitzenden des „Crimean Tatar Resource Center“ nur noch 119 davon übrig. In Behörden darf kein Krimtatarisch gesprochen werden. Wer zum Beispiel bei einer Gerichtsverhandlung trotzdem in seiner Muttersprache spricht, wird wegen Regelverletzung verwarnt.
Enteignungen, behördliche Schikanen und Militarisierung
Seit 2014 enteignen die Besatzer ukrainisches Eigentum. 2022 haben die lokal verantwortlichen Behörden in Jewpatoria [Stadt an der Westküste der Krim; Anm. d. Red.] und Simferopol [Hauptstadt der Autonomen Republik Krim; Anm. d. Red.] Land konfisziert, wo muslimische Friedhöfe waren. Nach dem Dekret Nummer 201 des russischen Präsidenten können rund 80 Prozent des Landes auf der Krim ausschließlich von Bürgern der Russischen Föderation erworben werden. Land, das Bürgern der Ukraine gehörte, wurde enteignet. Die Menschen auf der Krim mussten seit 2014 praktisch alle die russische Staatsbürgerschaft annehmen. Wer sich weigert, wird nicht krankenversichert, erhält keine Arbeitsstelle, kann kein Konto eröffnen oder kein Autokennzeichen erwerben. Schon das hatte zu einer Fluchtwelle von Ukrainern und auch Krimtataren geführt.
Die Demographie auf der Krim wurde massiv verändert mit dem Ziel, möglichst viele ethnische Russen dort anzusiedeln. Die Zahlen dazu können nur geschätzt werden. Nach Angaben von Mustafa Dschemilew, eine der führenden Persönlichkeiten der Krimtataren, sind bis 2021 zwischen 600.000 und 1,5 Millionen Russen auf der Krim angesiedelt worden, 30.000 Krimtataren sind geflohen. Die russische Führung möchte mit aller Gewalt den Eindruck erwecken, alle Krimbewohner seien für Russland. In den Schulen, so berichten Eltern, die noch auf der Krim leben, gebe es Malwettbewerbe zum Thema der Kriegshelden – also jener Männer, die seit 2022 gegen die Ukraine kämpfen. Die Gewinner-Bilder hängen großformatig in den Städten und Dörfern der Krim aus.
Die Halbinsel wurde systematisch militarisiert. Sogar schon Jugendliche von 16 bis 17 Jahren werden angeworben, damit sie für Russland gegen die Ukraine kämpfen. Seit 2014 hat Russland mehr als 34.000 Männer zum Wehrdienst eingezogen. Wie viele davon im aktuellen Krieg schon gefallen sind, ist unbekannt. Auf der Krim entstanden ein neues Untersuchungsgefängnis, neue Friedhöfe für Gefallene aus dem Krieg in der Ukraine, Krankenhäuser, wo russische Soldaten versorgt werden. Ukrainische Kinder aus den von Russland besetzten Gebieten der Ukraine wurden in angebliche Sommercamps auf die Krim gebracht und von dort dann nach Russland verschleppt. Sie zählen zu den rund 20.000 ukrainischen Kindern, die in Russland festgehalten werden: Ein monströses Verbrechen, auf dessen Grundlage der internationale Strafgerichtshof einen Haftbefehl gegen den russischen Präsidenten Putin erlassen hat.
Wo die Zukunft abknickt
Die Krim sei der Ort, wo der russische Krieg gegen die Ukraine entschieden werde könne, argumentieren Militärs, denn über die Krim laufe der Nachschub und von dort aus werde der Krieg geführt. Auch die ukrainische Seite hat Szenarien, wie die Besetzung der Krim rückgängig gemacht werden könnte. Ende 2023 waren der Ukraine mehrere Schläge gegen das russische Militär auf der Krim gelungen. Und auf der Krim selbst gibt es immer noch Menschen, die protestieren, die die ukrainische Armee gar unter Lebensgefahr mit Informationen über das russische Militär versorgen und die auf eine freie Krim hoffen.
Nach zehn Jahren Besatzung sei auf zivilgesellschaftlicher Ebene wichtig, dass der Kontakt zwischen den Menschen auf der Krim, zwischen Krimtataren auf der Krim, in der Ukraine und in der Diaspora und mit den anderen Menschen in der Ukraine nicht abreiße, sagt Sabina Iliasova. Denn immer noch dominierten auch in den Köpfen der Menschen in der Ukraine russische und sowjetische Narrative und Bilder, wenn es um die Krim und die Krimtataren gehe. Die Krimtataren selbst sind mittlerweile in alle Welt verstreut. Aber sie versuchen mit allen Mitteln, untereinander Kontakt zu halten und über ihr Schicksal aufzuklären.
[Die Autorin]
Sarah Reinke ist Teamleiterin der Menschenrechtsreferate bei der Gesellschaft für bedrohte Völker. Inhaltlich liegt ihr Schwerpunkt auf der Menschenrechts- und Minderheitensituation in Ländern in Osteuropa. Von 2017 bis 2022 war sie geschäftsführende Studienleiterin der Stiftung Adam von Trott, Imshausen e.V..