Von Regina Sonk
Tanya Tagaq wuchs am Rande des kanadischen Eismeeres auf. Sie ist Inuk und eine einzigartige und kraftvolle Künstlerin. Ihr innovativer Kehlkopfgesang und ihre eindrucksvollen Auftritte fordern und inspirieren ihr Publikum. Gleichzeitig überschreitet sie Grenzen, rüttelt auf und klagt an.
Unsere Mutter wird zornig sein.
Ihre Vergeltung wird schnell sein.
Wir vergeuden ihre Erde und saugen ihr süßes schwarzes Blut, um es zu verbrennen.
Die ersten Sätze ihres Songs „Retribution“ (dt.: Vergeltung) von dem gleichnamigen Album stehen für eine Welt, die der Mensch aus dem Gleichgewicht gebracht hat. „Retribution“, veröffentlicht im Jahr 2016, gilt als Tanya Tagaqs bisher politischstes Album. Sie thematisiert in den Liedern Vergewaltigung von Frauen und Kindern und ebenso von Land und Umwelt.
„Ich wollte einen Schlussstrich ziehen unter die nicht einvernehmliche Aneignung von Land, die nicht einvernehmliche Ausbeutung nicht erneuerbarer Ressourcen und den täglichen Terror, den wir einander und vor allem Frauen antun“, erklärt Tagaq 2016 in einem Interview mit dem Onlinemagazin „Pitchfork“. Sie widme dieses Album auch „[denjenigen], die wir durch Selbstmord verloren haben“. Auf „Retribution“ singt sie von Gewalt, sexuellem Missbrauch und Alkoholismus. Vom Überleben, Weiterleben und Weitermachen.
Die Hauptthemen, die Tagaqs Kunst durchziehen, sind ihre Herkunft und die Spuren, die Gewalt der Kolonialzeit an den Inuit hinterlassen haben: Die Folgen von Unterdrückung, dem Internatssystem und Umsiedlungen der Inuit in Kanada zeigen sich bis heute in hohen statistischen Zahlen von Alkoholismus, Selbstmordraten und Femiziden [Tötung von Frauen und Mädchen aufgrund ihres Geschlechts; Anm. d. Red.].
Nunavut: am Rande des Eismeers
Die Welt, die Tagaq beschreibt und aus der sie kommt, ist eine der nördlichsten besiedelten Regionen der Welt. Die heute 48-Jährige ist Inuk. Sie wuchs in einer kleinen indigenen Gemeinschaft in Cambridge Bay (Inuit: Ikaluktuutiak) in Nunavut auf. Nunavut (dt.: „Unser Land“) ist das Territorium der Inuit am Rande des kanadischen Eismeeres und umfasst einen großen Teil der Arktis.
Es wurde 1999 gegründet. Als Kind empfand Tagaq das Dorf und die ewige Weite des Eises als beengend. Sie wollte immer weg. Als Erwachsene ist sie stolz auf ihre Herkunft und diese einzigartige Prägung. Heute spiegelt ihre Kunst die tiefe Verbundenheit mit ihrem kulturellen Erbe und der Natur wider.
Im „Pitchfork“-Interview gibt sie einen Einblick, was ihr ihre indigene Identität bedeutet: „Ich bin in einer kleinen Stadt mitten im Nirgendwo aufgewachsen, ich kenne das Land. Ich weiß, was wir früher waren. Und manchmal wird es wieder wach in mir. Ich war schon lange nicht mehr auf der Jagd gewesen, als ich einmal mit ein paar Älteren auf Robbenjagd ging. Ich hatte lange kein rohes Robbenfleisch mehr gegessen. Als sie die rohe Leber aßen, bot mir der Älteste etwas davon an. In meinem Kopf dachte ich: ‚Oh, das muss ich tun, denn ich bin Inuk und es wäre seltsam, wenn ich es nicht täte. Ich steckte mir das Fleisch in den Mund und meine ganze Wirbelsäule hob sich Stück für Stück.
Eine prickelnde Wärme durchströmte meinen ganzen Körper. Etwas erwachte in mir, das mich an die Zeit vor Hunderten von Jahren erinnerte – es [erinnerte mich] daran, dass wir Tiere sind und dass wir vor Hunderten von Jahren genau das getan haben. Die heutige Technologie ist nicht das, was wir sind. Es hat mich einfach daran erinnert, was mir in meiner Lebensrealität fehlt.“
Musik als Akt des Widerstands
Als Tanya Tagaq als Jugendliche auf ein Internat geht und ihr Zuhause verlässt, ist das für sie eine positive Erfahrung – ganz im Gegenteil zu den indigenen Generationen vor ihr, die in Internaten Misshandlung erlebt haben. Tagaq beginnt im Alter von 15 Jahren im Internat mit dem traditionellen Kehlkopfgesang der Inuit. Diese traditionelle Praxis zu erlernen, bedeutet für sie, ihren ursprünglichen Wurzeln und ihrer Spiritualität näher zu sein. Für sie ist es ein Akt der Liebe. Aber es ist auch ein Akt des Widerstands, indem sie Kultur zurückfordert, die ausgerottet werden sollte. Später, während ihres Kunststudiums, entwickelt sie ihre eigene Variante: Sie singt den ursprünglich zweistimmigen Inuit-Gesang solo.
Einem breiteren Publikum bekannt wird Tagaq durch ihre Mitarbeit an Björks vokalem A-cappella-Album „Medúlla“ im Jahr 2004. Ihre Musik lässt sich nicht leicht kategorisieren. Sie lässt Elemente klassischer, experimenteller und traditioneller Stile zu etwas ganz Eigenem und Unverwechselbarem verschmelzen. Ihre kraftvollen und ausdrucksstarken Auftritte haben ihr den
Ruf eingebracht, eine der innovativsten Künstlerinnen ihrer Generation zu sein.
Neben ihrem Gesang verwendet Tagaq auch Elemente der elektronischen Musik, indem sie Loops und andere Produktionstechniken einsetzt und so eine komplexe Klanglandschaft schafft. Mit ihrer Musik und ihren Live-Auftritten fordert, irritiert und inspiriert sie ihr Publikum. Sie überschreitet Grenzen und ist dabei eindringlich und faszinierend.
Debütroman „Eisfuchs“
2020 erweitert Tanya Tagaq ihr künstlerisches Schaffen um die Literatur: Ihr Roman „Eisfuchs“ (im Original: „Split Tooth“) ist ein genreübergreifendes Werk, das zwischen Szenen biographischer Erinnerungen, Poesie und indigenen Mythen der Arktis wechselt. Die Protagonistin ist ein Inuit-Mädchen, das in der Arktis aufwächst. Die Leser*innen begleiten es in den Jahren des Übergangs zur Frau. Die Reise der Protagonistin zur Selbstfindung und zum Verstehen der eigenen Geschichte steht im Mittelpunkt der Erzählung. Im Roman beschreibt Tagaq das Aufwachsen in dieser indigenen Gemeinschaft wie in einer Sozialsiedlung. Dazu muss man wissen, dass viele Inuit auch in der Realität durch die kanadische Politik der Zwangsanpassung in Abhängigkeit von Sozialhilfe gerieten. Alkoholmissbrauch ist auch hier Teil einer Überlebensstrategie.
Schonungslos beschreibt Tagaq in vielen Szenen, wie die Protagonistin immer wieder Zeugin und schließlich selbst Opfer von Vergewaltigung wird. Ihrem Lehrer sieht sie noch die Spuren der Folter seiner Internatszeit an. In diesem harten Alltag spürt sie dennoch viel familiäre Wärme und Zusammenhalt und zieht Kraft aus dem Eis. Das autobiographisch geprägte Buch ist in einem lyrischen und phantasievollen Stil geschrieben, der die raue Schönheit, aber auch die Härte der alltäglichen Lebensrealität der Arktis zum Ausdruck bringt.
In all‘ ihren Werken bringt Tagaq eine einzigartige Perspektive und eine kraftvolle Stimme in die Welt der Kunst ein. Ihre Musik und ihre Texte bieten einen Einblick in das reiche kulturelle Erbe und die Erfahrungen der Inuit. Sie verleiht ihrer Heimat eine starke Stimme und übt laute Kritik an den Spuren, die der Kolonialismus bis heute hinterlassen hat.
[Die Autorin]
Regina Sonk ist Referentin für indigene Völker bei der Gesellschaft für bedrohte Völker.