Göttingen, 27. April 2005
Aus Paraguay gelangen relativ wenige, meist negative Informationen zu uns. Schlagzeilen machte die Menschenjagd in den Chaco-Wäldern durch die aus den USA stammende fundamentalistische New Tribes Mission (NTM) und der durch sie beeinflussten Ayorèode-Guidaigosode. Der Staat unterband derartige Aktionen, die immer dann akut wurden, wenn es zu gewaltsamen Zusammenstößen zwischen Arbeitern, die für Rinderfarmen Schneisen in die Wälder brachen und Waldindianern der Ayorèode-Totobiegosode kam (siehe Pogrom 183, 201, 217). Wie viele noch ohne Kontakt zur kolonisierenden Gesellschaft lebende Indianer es in Nord-Paraguay gibt, vermag niemand zu sagen. Man spricht von einigen Kleingruppen und Familien, die nördlich der Mennoniten-Kolonien bis nach Bolivien hinein den Chaco durchstreifen.
Als Folge der Abholzung und zunehmenden Versteppung herrscht im ariden Chaco die größte Trockenheit seit 16 Jahren. 2003 versiegte der 60 Hektar große See bei Mariscal. Staubwinde geißeln seitdem die Region. Menschen starben, da sie verschmutztes Wasser getrunken hatten. Temperaturen bis 48° C im Schatten sowie Flächenbrände machen das Leben zur Qual. Eine weitere Folge der Abholzung ist die Zunahme der Grundwasserversalzung. Viele Estancieros wollen ihre Rinderfarmen verkaufen und zahlreiche Mennoniten haben den Chaco in Richtung Kanada verlassen.
Die Totobiegosode von „Arocojnadi“ waren die einzige indianische Dorfgemeinschaft, die ohne fremde Lebensmittelhilfe – mit Ausnahme der Wassertankwagen – die Dürre überlebt hat. Damit haben sich die intensiven Landsicherungen bewährt: Ausreichend intaktes Land mit Wild und Sammelprodukten sichert Unabhängigkeit. Seit 1992 fordern sie vom Staat 5.500 km2 ihrer gestohlenen Heimat zurück. 1997 konnten sie in der New Tribes Mission von Campo Loro in ihr angestammtes Stammesgebiet zurückkehren, wo die erste Landübergabe erfolgte. Seitdem wurden ihnen im Gebiet des Reclamo Totobiegosode weitere Landtitel überschrieben. Satellitenbilder zeigen, dass diese Region noch die am besten erhaltene im Department Alto Paraguay ist.
Da es außer in Arocojnadi in allen Ayoréode-Siedlungen an einer Lebensgrundlage fehlt, drängten die zwölf noch in Campo Loro lebenden Totobiegosode-Familien darauf, ein neues Dorf (Chaidi) in der Südwestecke des bereits gesicherten Territoriums (Ex San Antonio-Norte) zu errichten. Südlich von Chaidi gibt es nur noch Weideland anstelle einstiger weitreichender Dornbuschwälder. Die Siedlung soll auch als Sicherungsposten vor weiterer Waldzerstörung dienen. Sie liegt etwa 175 km nordöstlich von Filadelfia, dem Hauptort der mennonitischen Kolonie Fernheim. In Chaidi möchte auch die 1998 bei Tagua kontaktierte Ayorèo-Familie leben, die heute in Arocojnadi ist. Sie war nach einem Jahr Missionssiedlung Campo Loro wieder in das östliche Waldland gebracht worden.
In Chaidi kam es am 3. März 2004 zu einer Begegnung zwischen Totobiegosode, die 1986 gewaltsam kontaktiert worden waren und wieder auf ihr eigenes Land zurückkehren wollen, mit einer Gruppe von Waldindianern, die eine Untergruppe der Totobiegosode sind – den Aregedeurasade. Dabei wurden sie von vier Männern aus dem Wald überrascht. Diese hatten die Vorbereitungen seit Monaten still beobachtet und Porai, Chicoi und Ducubaide als ihre Verwandten identifiziert. Am nächsten Tag holten die Waldleute ihre Angehörigen, fünf Männer, sieben Frauen und fünf Kinder. Diese Begegnung zwischen den Totobiegosode von Campo Loro, Arocojnadí und den Aregedeurasade wurde zu einem freudigen Wiedersehen nach 20 Jahren. Bei der gewaltsamen Kontaktierung durch die New Tribes Mission und den seit den sechziger Jahren in der Mission lebenden Guidaigosode waren 1986 engste Verwandte auseinander gerissen worden.
Das Leben der Waldnomaden war in den letzten Jahren zunehmend widriger. Wenn sie den Bulldozer hörten, fingen sie an zu zittern. Die Zahl der Waldnomaden hat sich in den letzten Jahren verringert. Einerseits teilten sie sich, da sich in den schrumpfenden Wäldern keine ausreichende Nahrung finden ließ. Andererseits gab es sechs Todesfälle in der Restgruppe. Abgesehen von einem 85-jährigen Mann und einer 75-jährigen Frau gab es unter ihnen keine Personen mehr, die älter als 40 waren. Neben der Suche nach ihren Verwandten waren der Wassermangel und die im Gebiet unaufhörlich vorrückenden Bulldozer Gründe für ihre Entscheidung, den Kontakt zu ihren Verwandten zu suchen.
Das unerwartete Erscheinen der Waldindianer erhitze nicht nur Medien und Behörden, sondern auch die NTM und die Missionsindianer. In der Missionsstation Campo Loro fand sogleich eine Versammlung statt. Der Dorfvorsteher und in Menschenjagd erfahrene Mateo Sabode von den Guidaigosode stellte fest: „Sie dürfen nicht in den Wald zurück, sondern müssen zivilisiert werden.“ äußerlich wurden die Areguedeurasade inzwischen angepasst: Die Nacktheit gehört der Vergangenheit an, alle erhielten westliche Kleidung. Die langen Haare der Männer, die am Hinterkopf fest mit einem Strick umwickelt sind, fielen der Schere zum Opfer. Die einer Schildkröte ähnelnde, mit Zweigen und Erde gedeckte Hütte wurde durch eine Plane ersetzt. Die traditionelle Behausung hat deutliche Vorteile gegenüber dem Wetterschutz der „Zivilisation“. Sie bietet Schatten und damit angenehmere Temperaturen in der Hitze und ermöglicht wärmende Feuer vor ihren Öffnungen, so dass gut der Kälte getrotzt werden kann.
Obwohl nach Kontaktierung der Waldindianer zügig eine medizinische Betreuung veranlasst wurde, kam es bereits am fünften Tag nach der Begegnung zu ersten Grippeerkrankungen, die alle Mitglieder der Gruppe erfassten. Anfang Juli starb der alte Mann an den Folgen der Grippe. Auf Anraten der paraguayischen NGO Grupo Apoyo de los Totobiegosode (GAT) hat sich die Gruppe inzwischen in den Wald zurückgezogen und hält Abstand zu Chaidi, da sie keine Immunität hat gegen Krankheiten wie z.B. Grippe, Lungenentzündung, Masern, die für sie aus diesem Grund lebensgefährlich sind. Nach wie vor herrscht unter den Ayorèode jedoch das traditionelle Konzept, dass Menschen, die bisher zurückgezogen im Wald gelebt haben, sich der Gruppe unterstellen müssen, mit der sie – freiwillig oder gewaltsam – in Kontakt getreten sind. Die Totobiegosode von Campo Loro sind zwar ihre nächsten Verwandten, aber auch in diesem Fall scheint diese Regel zu gelten.
Die Areguedeurasade wollen weiterhin im und vom Wald leben. Sie ernähren sich von den reichlich vorhandenen Ressourcen wie Palmherzen, wilden Bohnen, Schildkröten, Wildschweinen und Honig. Von der Generalstaatsanwaltschaft wurde eine Spezial-Kommission aus ärzten und Ethnologen einberufen, um konkrete Schritte zur Begleitung der Aregedeurasade zu übernehmen. Zum Glück hat die Begegnung auf Land stattgefunden, das den Totobiegosode bereits gehört. Die Argeguedeurasade können dort bleiben und weiterhin nach gewohnter Weise leben.
Bisher ist es der Kommission gemeinsam mit den engsten Totobiegosode-Verwandten gelungen, die Aregedeurasade vor einer unerwünschten Besucherlawine abzuschirmen. Die lokale Gesellschaft, die Presse, ausländische Wissenschaftler, die Guidaigosode, welche die traditionellen Gebrauchsgegenstände der Areguedeurasade verkaufen und aus deren Kontaktierung ein Geschäft machen wollen, Missionare von NTM und der Mennoniten sowie Neugierige kreisen um sie wie Geier. Vor einem Jahr hat der Anthropologe Amadeo Benz die Koordination von GAT im Feld übernommen. Das GAT-Büro in Asuncion unternimmt das Mögliche, um die Feldarbeit zu unterstützen und in juristischer und politischer Hinsicht für die Landsicherung weiterzukämpfen. Es geht nun darum, das Kernstück des zu sichernden Gebietes zu retten, bevor brasilianische Unternehmen darauf eine Estancia einrichten. Durch die Erschließung des Grundstücks von Casado drohen die bereits gesicherten und an die Totobiegosode übertragenen Ländereien in zwei Blöcke zu zerfallen. Die Landforderungen der Totobiegosode im Norden sind nicht gefährdet. Im Osten sieht es durch brasilianische Firmen düster aus. Hinzu kommt, dass vom Staat zum Kauf beabsichtigte Gebiete nicht erworben wurden, so dass diese an die alten Besitzer zurück fielen. Dringend notwendig ist der Erhalt der Komplexität der Wälder und keine Zerstückelung aufgrund privater Interessen.