Von Claus Biegert
Im März verbrachte ich einige Tage auf dem Colorado Plateau im Südwesten der USA. Manchmal ist eine weite Reise dienlich, das Naheliegende wahrzunehmen, zumindest besser zu erkennen. Ich war als Dokumentarfilmer zu Gast in Window Rock, dem Regierungssitz der Navajo. Window Rock liegt in Arizona.
Die Navajo sind ein großes indigenes Volk mit über 300.000 Seelen, deren Reservat und Lebensraum sich auf die vier US-Bundesstaaten New Mexico, Arizona, Utah und Colorado erstreckt. Doch hier gleich eine Korrektur: Sie heißen nicht Navajo und die Gerichtsbarkeiten von New Mexico, Arizona, Utah und Colorado werden von ihnen nur mürrisch entgegen genommen. Sie selbst nennen sich Diné (das Menschenvolk) und ihr Land ist Dinétah und wird von vier heiligen Bergen eingerahmt: Sis Naajiní (Blanca Peak), dem „Berg der weißen Muschelkette“ in Colorado, Dootł’izhii Dził (Mount Taylor), dem „Türkisberg” in New Mexico, Dookʼoʼoosłííd (San Francisco Peaks) in Arizona, Dibé Nitsaa (Hesperus Mountain) in Colorado. Sie haben eine eigene Regierung, und diese Regierung hat ihren Sitz in Window Rock. Die eingewanderten Siedler und multinationalen Konzerne gruben innerhalb der vier heiligen Berge nach Kohle und Uran. Sie haben es nicht aufgegeben und graben bis heute; auch wenn die Regierung der Navajo Nation seit 2008 den Abbau untersagt und die Renaturierung von über 500 Minen im Reservat fordert.
In der Verteidigung ihrer heiligen Berge kristallisiert sich die Diskrepanz zwischen unserem Lebensstil und Hoszo, der Harmonie, die bei den Diné als Grundlage für ein erfülltes Leben gilt. Hoszo – Voraussetzung für das Zusammenspiel aller Lebewesen – stellt sich nicht von selbst ein: Die Harmonie muss erkannt, bekannt und vitalisiert werden. Hoszo verlangt ein tägliches Kümmern, einen morgentliches Grußgebet zu den Bergen – sowohl ein Wahrnehmen der Harmonie mit den nicht-menschlichen Wesen um uns, als auch ein Wahrnehmen des fehlenden Gleichklangs und Gleichgewichts, ein Mitfühlen mit der geplagten Natur.
Als jene Diné, die im Vietnamkrieg gekämpft hatten (ja, auch wenn es uns nicht gefällt: Indigene Stammesmenschen melden sich zum US-Militär, um der Armut auf dem Reservat zu entkommen und um ihre Familien zu ernähren), als jene Krieger zurück kamen, die für die USA gegen Menschen gekämpft hatten, die ihnen ähnlich sahen, wurden sie mit dem Enemy Way, einer Heilungszeremonie, wieder in die Gesellschaft eingegliedert. Sie hatten getötet und waren damit zu Außenseitern geworden, erst durch die Gesänge eines Hataałii und die Gegenwart ihrer Familien und Klanangehörigen konnten sie wieder Mitglieder der Diné werden. Für ihre eigenen, weißen Soldaten hatten die USA keine Heilungszeremonien parat; viele nahmen sich das Leben, weil sie den Anschluß an die Gesellschaft, der sie entstammten, nicht mehr fanden und ihnen niemand half, ihn zu finden.
Window Rock liegt in Arizona, direkt an der Grenze zu New Mexico. Der Regierungssitz der Navajo Nation erstreckt sich in eingeschossigen Bauten unterhalb eines Felsens mit rundem Fenster. Window Rock. Die Diné verwenden vorläufig immer noch den Begriff Navajo, der ihnen von den Spaniern gegeben wurde. Zugrunde liegt ein Begriff der Tewa, Navahuu , der sich auf ihre Sesshaftigkeit und auf Ackerbau und Viehzucht bezieht. Wenn es der Verständigung dient, dann ist auch der Begriff American Indian (entspricht unserem Indianer) von den Betroffenen durchaus akzeptiert. Die Begriffe Navajo und Diné existieren derzeit nebeneinander.
Ich werde begleitet von Eda Gordon, die mich am Sun Port von Albuquerque abgeholt hat. Genau genommen bin ich ihr Begleiter, denn wir sitzen in ihrem Auto und sie sitzt hinter dem Steuer. Eda ist freiberufliche Redakteurin, Privatdetektivin, Aktivistin. Natürlich sprechen wir über Leonard. Beide waren wir Jahre lang engagiert in den Kampagnen zur Freilassung des politischen Gefangenen Leonard Peltier.
Die internationale Solidaritätsbewegung hatte viele Wege beschritten; aber selbst Briefe von Papst Franziskus an die Präsidenten Obama und Biden hatten nicht zu seiner Freilassung geführt. Leonard ist immer noch hinter Gittern, 46 Jahre sind es bereits. Es ist bewiesen, dass er den Tod von zwei FBI-Agenten auf dem Sioux-Reservat Pine Ridge in South Dakota nicht verschuldet hat. Er ist jedoch dabei gewesen, als sich traditionelle Lakota und zwei FBI-Agenten beschossen. Im Juni 1975 war es, das Reservat war im Bürgerkrieg: Good Indian vs. Bad Indians. Traditionelle Lakota und American Indian Movement vs. Stammesregierung und Bureau of Indian Affairs. Das FBI hatte beschlossen, den Traditionalisten und AIM-Aktivisten Leonard zum Schuldigen zu machen. In den Jahren 1974 und 1975 hat das FBI rund 2000 Special Agents auf dem Reservat ausgebildet. Eda arbeitete in diesen Jahren mit einem Anwalt, der AIM vertrat und war oft auf dem Reservat. „Es war lebensgefährlich“, lautet ihre Erinnerung.
Und wir sprechen über Norman Brown. Beide kennen wir ihn aus unserer Arbeit. Norman ist ein Diné, seit Jahrzehnten aktiv in der Stammesinitiative gegen Uranabbau. Als Jugendlicher hatte er sich der Widerstandsbewegung American Indian Movement angeschlossen. Er war 15 damals und befand sich in der Nähe des Schußwechsels auf dem Reservat Pine Ridge. Er und Leonard kannten sich gut, gemeinsam kümmerten sie sich um Alte und Kinder. Sie wollten der Kontrolle durch das Bureau of Indian Affairs eine autochthones Modell von Unabhängigkeit entgegensetzen. Bis heute sitzt ihm der 26. Juni 1975 in den Knochen.
„Bin gespannt, ob wir Norman sehen werden“, sage ich, als wir uns Window Rock nähern. „Ich auch“, sagt Eda. „Er ist so ein freundlicher Mensch.“
Als wir nach fast drei Stunden Highway auf dem sonst fast leeren Parkplatz des Quality Inn etwas steif aus unserem Auto steigen, kommt ein Mann auf uns zu. Sein Lächeln nimmt das ganze Gesicht ein. Es ist Norman Brown. Wir legen die Arme zu dritt umeinander, Tränen werden weggewischt.
Das Museum von Window Rock ist ein großer Bau, zum zweiten Mal ist es Schauplatz des International Uranium Film Festivals. In Window Rock hatte das Festival seinen Initialfunken erhalten, 2006 während eines Indigenous Uranium Summit. Aus Brasilien war damals der Journalist Norbert Suchanek angereist und mit dem Vorsatz eines Festivals nach Rio de Janeiro zurückgekehrt, wo er sofort mit seiner Frau Marcia Gomez daran ging, den Plan umzusetzen. Heute ist das Uranium Film Festival ein fester Bestandteil der internationalen Filmfestival-Szene und hat mit der Moderatorin/Aktivistin Libbe HaLevy ( Nuclear Hotseat heißt ihr regelmäßiger Podcast) mittlerweile auch ein Standbein in den USA. Window Rock ist der Auftakt einer vierwöchigen Festivalfahrt durch elf Bundesstaaten, mit einem Abstecher über die kanadische Grenze nach Vancouver. Nach dem jährlichen Festival in Rio im Juli, so der Brauch, geht das Programm auf die Reise. Zuverlässiger Finanz-Partner in alldem ist immer der Seventh Generation Fund, dessen Direktor Chris Peters auch hier ist und seinen Freunden Wollmützen überreicht, auf denen eingestickt ist: Be a good Ancestor.
Die vierwöchige „Turtle Island Marathon“ beginnt mit einer Zeremonie am frühen Morgen in einem Hogan, dem traditionellen sechseckigen Diné-Holzhaus mit Erddach. Dieser Hogan steht gegenüber des Eingangs zum Museum und wird ausschließlich zu rituellen Zwecken benutzt. Unsere Freundin Anna Rondon, seit Jahren aktiv im Widerstand gegen Uranabbau, hat Lawrence Begaye, einen jungen Medizinmann, einen Hataałii, gebeten, für das Unternehmen den Zuspruch der unsichtbaren Welt zu erbitten. Begaye kommt aus der nahe gelegenen Siedlung Black Hat in New Mexico und gehört wie Anna zum Klan Towering House Kinya aa anni. Lawrence umgibt die Aura seines berühmten Lehrers, John Holiday. Holiday galt zu Lebzeiten als Legende, denn er konnte den Regen rufen.
Es ist dunkel, wir sitzen auf dem gestampften Erdboden, das Feuer im Eisenofen knistert, der Gesang trägt uns weg. Fast unwillig verlassen wir nach einer Stunde die geschützten Zeremonialraum und treten hinaus ins Freie. Es hat begonnen, zu schneien. Geschenke, Adressen und Umarmungen werden ausgetauscht. Das Festival konnte beginnen. Thank you, Anna! Thank you, Lawrence Begaye!
Film und Wirklichkeit berühren sich fortwährend. Gerade noch der Blick in eine verseuchte Landschaft auf der Leinwand, dann Lunch neben einer Frau, die in einer Uranmine gearbeitet hat. Sie ist Witwe, ihr verstorbener Mann hatte Jahrzehnte in einer Uranmine geschuftet. Kaum eine Familie der Diné, die nicht Angehörige als Uran-Opfer zu beklagen hat. Denn kaum eine Familie, die nicht im Uran-Boom der 50er und 60er Jahre einen Job erhalten hatte. Ihre Medizinmänner- und frauen waren machtlos, mit den Auswirkungen der unbekannten Radioaktivität konnten sie nicht umgehen.
Ohne radioaktive Strahlung ist das Bild ein anderes: Dass Ureinwohner der sogenannten Neuen Welt in der im 20. Jahrhundert sich ausbreitenden Kultur und wachsenden Wirtschaft ihren Platz finden und sich dort – ohne Aufgabe der eigenen Identität – behaupten können, haben uns die Haudenosaunee (Irokesen) im Hochstahlbau gezeigt. Es waren vor allem die Männer der Mohawks, die als Teams an Brückenpfeilern und Wolkenkratzern schwebten. Highsteel wurde zur modernen indigenen Tradition. „Up there its just the creator and me“, sagte mir ein Hochstahlarbeiter der Onondaga: Dort oben seien nur der Schöpfer und er. So fühlten sie sich alle, fügte er an. In den Jahren, da New York seine heutige Gestalt bekam, gab es noch keine Sicherungsseile. Als ich im September 2023 mit meiner Tochter Tara über die Brooklyn Bridge ging, sah ich im Geiste die Irokesen turnen, ballancieren, schrauben, schweißen, spannen. Sie waren mit ihren Familien gekommen, lebten in Brooklyn, wenn eine Truppe heim ging, kam die nächste und übernahm die Wohnung. Zurück in ihren Reservaten kümmerten sie sich um die dortigen Belange, der gute Verdienst an den Baustellen verschonte sie vor dem Schicksal von Sozialhilfeempfängern. High Steel wurde ein fester Bestandteil der Mohawk-Kultur.
In Window Rock denke ich an meine Freunde der Haudenosaunee, die trotz enger Nachbarschaft mit dem weißen Amerika den Kern ihrer Kultur bis ins 21. Jahrhundert erhalten konnten. Für die Diné endete der Versuch, in der weißen Ökonomie mitzuwirken, tödlich.
Filmfestivals sorgen für Filmgespräche. Ob ich „The Zone of Interest“ schon gesehen habe, will Lise Autogena, die Filmmacherin aus Grönland wissen. Ich wurde schon lange nicht mehr so oft auf einen Film angesprochen. Ein Kunstgriff hatte das Kino belebt: Die Familie Höss privat, und hinter den Gartenmauern das Grauen. Muß man die Gräuel zeigen? Nein! Das Daneben, das Dahinter, das Davor, das Danach lassen das Unheil ahnen und sorgen in unseren Köpfen für ein Szenarium, das nicht mehr zu löschen ist.
Im Gegenzug bringe ich „Oppenheimer“ in die Runde. Dank der Oscars ist der Physiker plötzlich ein bekannter Name. Robert Oppenheimers Bombe hieß Trinity – Dreifaltigkeit. Es war der 16. Juli 1945, ein Montag, der die Welt veränderte. Ob sich bei der Zündung auch die Erdatmosphäre entzünden würde, war die große Frage, die sich Ingenieuren und Wissenschaftlern damals im Frühjahr in den Weg stellte. Sie dämmten gegenseitig ihre Zweifel ein und gingen ans Werk. Es war in der Nähe von Alamogordo in der Wüste White Sands, dem Land der Apachen. Niemand lebt dort, heißt es im Film, und das war damals auch die Ansicht der Atomtruppe. Doch wir wissen heute, dass in einem Umkreis von 50 Kilometern um die 40.000 Menschen lebten. Bis heute werden sie nicht als Strahlenopfer anerkannt. Sie schliefen noch in ihren Häusern am Rande Wüste White Sands, als die Trinity-Bombe gezündet wurde. Die Fensterscheiben, die zu Bruch gingen, weckten sie auf. Jimmy Carl Black, der Schlagzeuger von Frank Zappas Band „Mothers of Invention“, lebte damals südlich des Geschehens, in Anthony, einem Dorf in Texas, nahe der Grenze zu New Mexico. Die Glasscherben, die durch das Kinderzimmer flogen, hat er später in seinem Stück „Tumbleweed Canyon“ verarbeitet.
Der preisgekrönte Film von Christopher Nolan verschweigt deren Elend. Doch dieses Verschweigen der Hintergründe ist kein Kunstgriff, sondern Methode. Hollywood zementiert das nukleare Imperium. In Window Rock sind wir nicht weit weg vom Land der Apachen, in wenigen Stunden könnten wir dort sein und das grüne Glas von 1945 betrachten. Die Hitze der Dreifaltigkeit hat den Wüstensand in eine neue Form gebracht.
First they bombed New Mexico, sagt Tina Cordova – als erstes bombardierten sie New Mexico. Ich habe Tina wenige Monate zuvor getroffen, als sie in New York mit dem Nuclear Free Future Award geehrt wurde. Tina hatte 2005 die Initiative ergriffen und „Tularosa Basin Downwinders Consortium“ gegründet, eine Interessensvertretung der Trinity-Strahlenopfer. Tinas Worte klingen mir hier wieder in den Ohren: „People die at a regular basis, even four generations later. One child recently had eye cancer. We don’t ask if we get cancer, we ask when – Die Menschen sterben hier andauernd an den Auswirkungen, sogar vier Generationen später. Ein Kind wurde kürzlich mit Augenkrebs diagnostiziert. Wir fragen uns nicht, ob wir auch Krebs bekommen, nein, wir fragen uns nur wann.“
Vor dem Auditorium hat Leona Morgan einen Informationsstand errichtet, mit einer Landkarte des Grand Canyon hinter sich. Leona ist eine Aktivistin der Diné, die sich seit Jahren dem Widerstand gegen Uranabbau verschrieben hat, von Beruf ist sie Sozialarbeiterin. Leona vibriert, wenn sie spricht, ihre freundlichen Augen sprühen, es ist als spräche der Canyon durch sie. Grandmother Canyon nennen ihn die Ureinwohner. Jetzt ist die Großmutter durch die Pinyon Plain Mine bedroht, unweit des Red Butte, einem heiligen Berg der Havasupai. Red Butte wird auch von den Diné und den Hopi verehrt.
In unseren Tagen hat das Heilige wenig zu sagen. Der amerikanische Gesellschaftskritiker Jerry Mander veröffentlichte in den neunziger Jahren ein Buch mit dem treffenden Titel „In the Absence of the Sacred“. Für mich war es wie ein Satz, den ich schon lange sagen wollte, aber dessen Formulierung mir noch nicht gelungen war.
Wenn das Heilige fehlt, ist alles möglich. So haben wir die Erde entweiht, um sie ohne Gewissensbisse ausbeuten zu können. Klee Benally, der berühmte Musiker und Filmemacher der Diné wird beim Sprechen über das Heilige von vielen zitiert. Klee fehlt uns allen. Ende letzten Jahres ist er gestorben, 48 Jahre alt. Er hat ein Buch hinterlassen, das uns hier wie ein Aufruf erscheint, ein Aufruf, die Erde nicht zu vergessen: „No Spiritual Surrender – Indigenous Anarchy in Defense of the Sacred.“ Er hat es allen Verzweifelten gewidmet – For you, who also dispairs – und es als Creative Commons veröffentlicht, damit es ohne Rückfragen verbreitet werden kann: anti-copyright, Klee Benally, 2023.
Die Pinyon Plain Mine hieß früher Canyon Mine. Sie wurde 1992 geschlossen. Aber wenn es nach den Plänen der kanadischen Firma Energy Fels Inc. (EFI) geht, wird sie dort künftig pro Jahr um die 109 500 Tonnen Uran fördern. Eine aktuelle Zustimmung fehlt noch, aber die Firma beruft sich auf eine Genehmigung von 1986, die allerdings nicht den gegenwärtigen Anforderungen genügt. Die Mine ist auf dem Boden, der vom US-Forest Service verwaltet wird, doch der US-Forest Service schweigt. In Abwesenheit des Heiligen ist alles möglich.
Es war Klee gewesen, der mich vor vielen Jahren mit Leona bekannt machte. Leona verteilt einen Flyer: Defend the Sacred steht darauf und: Water is Life. Der Colorado River fließt durch den Grand Canyon, rund 40 Millionen Menschen trinken dieses Wasser. Die Lastwagenroute für das geförderte Uran führt über den San Juan und den Little Colorado. Ein Unfall würde nicht nur ein Verkehrsunfall sein. Leonas Flugblatt verweist auf diese Website: www.haulno.com
Die deutsche Firma Uranerz hat sich mit EFI vereint. Ich erinnere mich an ein Interview, das ich in den 80er Jahren in Bonn (unserer damaligen Hauptstadt) mit Rimbert Gatzweiler dem Chefgeologen der Uranerz geführt habe. Von Australien war die Rede, Uranerz hatte auch dort Schürfrechte erworben. Ich verwies auf die Zerstörung heiliger Orte. Die Antwort war ungehalten: Plötzlich kämen die Aborigines, stellen sich vor die Bagger und wollten ihre heiligen Plätze schützen. Aber nichts, rein gar nichts würde in der Landschaft darauf hinweisen, dass es sich um einen heiligen Ort handeln würde.
Diskussionen über kulturelle Aneignung gehören in unsere Zeit. Auch hier in Window Rock. Tony Hillerman ist der Anlass. Seine Navajo-Krimis sind überall zu haben. Das einzige Problem: Hillerman war ein Weißer. Ist es überhaupt ein Problem? Nein, sagt Joe Runninghorse, ein Schauspieler aus dem Laguna Pueblo, derauf dem Festival in dem Spielfilm „Valley of the Gods“ von Lech Majewski erscheint. Joe gehört zu den Menschen, die bereits durch ihr Erscheinen die Atmosphäre eines Raumes verändern. Joe hat eine Rolle in „Dark Winds“, einer erfolgreichen TV-Serie, die auf den Romanen Hillermans basiert und jetzt weitergeschrieben wird von seiner Tochter Anne. Dark Winds ist die größte indigene Filmproduktion, die bisher auf Indianerland entwickelt wurde. Die einzigen Weißen im Team sind Anne Hillerman – und Robert Redford, der das Ganze produziert.
Oh, ich habe gerade den Begriff Indianer verwendet. No problem, ich nehme den Shitstorm entgegen. Ich bin etwas empfindlich geworden bei diesem Thema. Dazu eine Anekdote aus einer Düsseldorfer Fußgängerzone: Ein Infostand für Leonard Peltier, es werden Unterschriften gesammelt für den „indianischen politischen Gefangenen“. Da werde sie nicht unterschreiben, sagt laut eine Passantin, indianisch sei diskriminierend. Und was sagt Peltier? „I am the Indian Voice – Ich bin die Stimme der Indianer“.
Die Bezeichnung „Indianer“ durch „Indigene“ zu ersetzen, mag teilweise politisch korrekt sein, doch die Arbeit ist damit längst nicht erledigt. Die indigenen Völker dieser Erde haben alle einen Namen. Erst wenn diese Namen benützt und korrekt geschrieben werden, erst dann können wir über political correctness sprechen. Diese Völker stehen unserem plündernden Lebensstil im Wege, daher ist es weniger irritierend, sie mit dem Überbegriff Indigen abzufertigen. Wer kein Gesicht hat, ist leichter auszubeuten.
Von Window Rock nach Santa Fé, Eda ist wieder am Steuer. Das „Museum of Contemporary Arts“ des Institut of American Indian Arts ist immer einen Besuch wert. Ein junger freundlicher Mann verkauft die Eintrittskarten, er kommt aus einem der Pueblos nördlich von Santa Fe. Eine Touristin aus Deutschland schmeichelt sich ein. Sie habe, sagt sie zu ihm, jetzt erst erkannt, dass Hillerman kein Ureinwohner ist, und sie habe sofort aufgehört zu lesen, nur indigene Autoren hätten in ihren Augen das Recht, indigene Krimis zu schreiben. „Yeah“, sagte der freundliche Pueblomann, „we do have good authors too – wir haben auch gute Autoren“. Ich habe keine Lust mich einzumischen. Als die Touristin außer Hörweite ist, erzähle ich vom Festival in Window Rock und erwähne die Serie Dark Winds. „Yeah“ sagt der Pueblomann, „Hillerman did a lot of good.“
Ich möchte diese Themen mit Jill Momaday besprechen. Ihr Vater, N. Scott Momaday, ist vor wenigen Wochen gestorben. Scott war für mich Freund, Lehrer, Vorbild, Orientierung. Jill kann mich nicht treffen. In der Straße wurde ein Mann erschossen, der Täter war noch nicht gefasst. Sie darf ihr Haus nicht verlassen. Auch das ist Santa Fé; der Wilde Westen will nicht weichen. Jill und ich treffen uns am Telefon. Doch das Thema der Ausbeutung bleibt unberührt. Wir sprechen über Trauer und wir sprechen ihre Tochter Natachee, die mit ihrem Gedichtband „Silver Box“ in die Fußstapfen ihres Großvaters tritt. Mokassin-Fußstapfen. Die Kritik ist begeistert. Ich kaufe den Gedichtband und bin es auch.
Cultural appropriation or cultural appreciation? Aneignung oder Wertschätzung? Der schwarze Journalist Greg Tate, er schrieb früher für die New Yorker Village Voice, veröffentlichte 2003 die Streitschrift „Everything but the Burden: What White People Are Taking from Black Culture“. Das Cover des Buches zeigte einen Mann von hinten, unterhalb der Gürtellinie. Die Hose hängt tief, tiefer geht es nicht. Es war unter Afroamerikanern ein Zeichen der Solidarität mit ihren gefangenen Brüdern und Mitstreitern. Im Gefängnis müssen Gürtel abgegeben werden, auch Hosenträger sind nicht erlaubt. Dann tauchte plötzlich die Hängehose in den Geschäften auf; die Modelabel haben ihre Spürhunde. Mit dem Profit kommt die Aneignung. Und hier setzt Greg Tate an: Musik, Malerei, Kochrezepte, Mode, Architektur … alles wird im Kapitalismus gewinnbringend verwertet. Alles, bis auf die Last: Das soziale Umfeld dürfen die Exoten behalten.
Everything but the burden. Postkoloniales Handeln verlangt das Hinterfragen unseres Lebenstils. Und ein Einmischen von uns Konsumenten! Kaum ein Rohmaterial, das unser Way of Life täglich braucht, liegt bei uns parat. Allem geht ein plündernder Beutezug voraus. So deutlich ist das natürlich nie zu hören – unsere Sprache des Konsums kennt keine rohen Begriffe.
Vor dem I-Wort ging es um das N-Wort. Frühere Literatur enthält Neger. Darf das so bleiben? Die Verlage krümmen sich und verkrümmen sich – als ob es der schwarzafrikanischen Bevölkerung, sagen wir im Umfeld der Uran-Minen in Niger, auch nur ansatzweise helfen würde, wenn Werke von William Faulkner, Wolfgang Koeppen oder Astrid Lindgren vom N-Wort gereinigt würden. Everthing but the burden.
Mein Freund Robert Hültner besteht darauf, sollte dies in einem Roman nötig sein, das Wort ‚Zigeuner‘ zu verwenden. Kein französischer Gitan empfinde es als Beleidigung – es handelt sich, wie auch bei ‚Gypsie‘, um eine Verballhornung von ‚Ägypter‘ , da man im ausgehenden Mittelalter fälschlicherweise annahm, dass diese Volksgruppe ägyptischen Ursprungs war.
Robert erzählte mir von einem Sinti in Straubing, den er bei einem Sinti-Roma-Workshop des Bayerischen Rundfunks kennen lernte. Dieser sagte zu ihm: „Ich lasse mir das Wort ‚Zigeuner‘ nicht rauben. Es war früher einfach eine Bezeichnung für das fahrende Volk, und es gab phantasievolle und romantisierende Bilder vom ‚Zigeunerbaron‘, von der ‚Zigeunerprinzessin‘, von ‚Zigeunermusik‘ usw. Die Nazis haben dieses Wort mit ihrem Schmutz überzogen und es von ziehender Gauner abgeleitet. Wenn wir heute zulassen, dass ‚Zigeuner‘ noch immer als Schimpfwort gilt, dann haben die Nazis gesiegt.“
Ich habe mir die Neue Zürcher Zeitung vom 17. April 2023 aufgehoben: „ Die neue Inquisition macht aus der eigenen Empfindsamkeit ein Herrschaftsinstrument. Die Welt braucht nicht besser zu werden, solange nur nichts Kränkendes, Verletzendes, Irritierendes die eigenen Kreise stört. Die angestrebte Ausmerzung des N-Wortes ist darum lediglich das Symptom einer egozentrischen Tendenz, an deren Ende die Grabesruhe der Selbstgenügsamkeit herrscht.“
Vor der Weiterreise an die Ostküste ein Besuch im Studio von Godfrey Reggio gegenüber von Santa Fés berühmter Cloud Cliff Bakery; der Cloud Cliff-Bäcker Willem Malten begleitet mich. Godfrey, der vor vierzig Jahren die experimentelle Film-Trilogie „Koyanisquatsi“, „Powaquatsi“ und „Naqoyqatsi“ geschaffen hat, ist 84 Jahre alt; in schwarz gewandet erwartet er uns, zu klassischer Musik sich wiegend, wallend der Bart, eine enge Wollkappe bis zu den Augenbrauen, über zwei Meter hoch, er könnte Albus Dumbledore sein, die graue Eminenz von Hogwarts. Wir erhalten eine Privatvorführung seines jüngsten Oevres „Once Within a Time“. Ein Spektakel über unsere Zivilisation, überbordend. Und gleich hinterher: The Making of. Ein Einblick ohnegleichen: ein Team im Fluß genialer Inspiration mit einem Hauch von Magie. Godfrey, der Magier.
New York City. Ich bin zu Fuß in Manhattan unterwegs, zusammen mit Alfred Meyer, Mitglied von PSR (Physicians for Social Responsibility – Ärzte für soziale Verantwortung), ein Mitstreiter in meinem Alter. In der Grand Central Station fängt mich der Duft einer Bäckerei ein. Ich weiche vom Kurs zur Subway ab und folge meiner Nase, Alfred auf meinen Fersen. Zimtrollen mit Rosinen. Er besteht darauf, zu bezahlen. „Darf es noch etwas sein“, fragt die junge, lächelnde Frau hinter dem Ladentisch. „Ja“, sagt Alfred, „world peace – Frieden in der Welt“. Ihre Augen werden groß: „Ich wünschte, ich könnte Ihnen helfen“, sagt sie.
Democracy Now! The war and peace report. Für mich Teil von New York City. Welch ein Privileg, eine glaubwürdige Nachrichtenquelle anzapfen zu können. DemocracyNow! berichtet von Montag bis Freitag über die Wirklichkeit in ihrer Absurdität: Die USA liefern Bomben und werfen Lebensmittel ab. Gaza dominiert. Und spaltet. Nach dem Terroranschlag der Hamas am 7. Oktober haben die Aktien der Waffenindustrie Konjunktur. Gewalt gegen Gewalt. Wer Israels Regierung kritisiert läuft Gefahr als Antisemit zu gelten. Wer den historischen Kontext heranzieht, ebenso. Warum können wir nicht das Leiden beider Seiten sehen? Warum zwingt uns in Deutschland die Schuld des Holocausts zur Loyalität gegenüber einem Regime, das wir verabscheuen? Wir liefern der Regierung Netanjahu die gewünschten Waffen. Laden wir damit nicht neue Schuld auf uns?
Benjamin Netanjahu, Wladimir Putin, Erdogan, Yahya Sinwar, Ismail Hanija … die Galerie der Despoten ist nie leer: getrieben von Machtgier, Hass, Größenwahn, blind, taub, unerreichbar, ohne Skrupel. Die indianische Welt kannte auch so einen: Tadodaho – seine Geschichte beeindruckt mich immer wieder aufs Neue.
Vor rund 1000 Jahren war es, östlich der Großen Seen, wo heute der Staat New York sich ausdehnt. Tadodaho war ein Monster. Die Erzählung beschreibt ihn als blutdürstigen Hexer, gekrümmt von Hass, Schlangen wuchsen ihm aus dem Kopf, Dreadlocks waren es wahrscheinlich, sein Penis war so lang, dass er ihn um den Hals legte, er konnte die Winde rufen und Stürme zum Halten bringen. In ihm konzentrierte sich eine grausame Gesellschaft, in der Kannibalismus herrschte und die von Furcht zusammengehalten wurde. Sie, die sich gegenseitig umbrachten, waren untereinander verwandt; sie gehörten zu fünf Stämmen: Mohawk, Oneida, Cayuga, Onondaga, Seneca.
In diesem Dunkel der Angst erschien eine Lichtgestalt, die heute in den Erzählungen als Peacemaker – Friedensstifter – bezeichnet wird. Der Friedensstifter propagierte eine Gesellschaft, in der Frauen und Männer gleichberechtigt gemeinsam wirken und sich ergänzen, in der das Wohlergehen der kommenden Generationen Richtschnur jeden politischen Handelns sein muss. Als er die Mehrheit der Bevölkerung hinter sich wußte, zog er mit seinen Anhängern dem Tadodaho entgegen. Dieser Teil der Erzählung ist von – wie soll ich sagen? – zarter Wucht: Sie kämmten ihn, sie säuberten seine Augen, seine Ohren, sie massierten ihn, bis der Mensch wieder sichtbar wurde, denn er war ja als Mensch zur Welt gekommen. Der Friedenstifter legte die Wurzeln einer Kiefer bloß und rief alle Kriegshäuptlinge zu sich und forderte sie auf, ihre Waffen unten die Wurzeln zu legen; dann häufte er Erde darüber. Wir nehmen auf diesen Akt heute noch Bezug, wenn wir davon sprechen „das Kriegsbeil zu begraben“. Er nannte seinen Vorschlag des Zusammenlebens das „Große Gesetz des Friedens“. Es war die Verfassung, der die Haudenosaunee bis heute folgen. Für mich so beeindruckend ist das Festhalten an der Annahme, dass auch Monster einmal als hilflose Menschenwesen auf die Welt kamen und nach Zuneigung suchten. Das Suchen nach dem enttäuschten, betrogenen Inneren, dem menschlichen Kern – eine Therapie ohnegleichen.
Tadodaho verfolgte das Geschehen. Der Peacemaker hatte sich den Schlimmsten für den Schluß aufgehoben: Er machte ihn zum Hüter des Friedens. Mit einer Auflage: Alle, die ihm folgen würden, tragen seinen Namen: Tadodaho. Damit die Menschen nicht vergessen, dass Frieden nicht die Abwesenheit von Krieg ist, sondern täglichen, tatkräftigen Einfluß verlangt. Und: Alle können wir zu Monstern werden, wenn wir vergessen, wer wir sind. Der derzeitige Tadodaho ist Sid Hill, ein Onondaga.
Wir brauchen unabhängige Friedensstifter. Mein Wunsch ist ein Tagtraum, wenige Tage später erreicht mich eine Meldung aus den USA: Am 11. April trafen sich in Washington, DC „on the land where the Potomac River flows“ für zwei Tage indigene Aktivisten aller Himmelsrichtungen zum First Global Summit on Indigenous Peacebuilding – dem ersten Gipfel zu indigener Friedensbildung. Die Haudenosaunee waren vertreten. Die Haudenosaunee in Experten in Krieg und Frieden und sollten ihre Erfahrungen von Versöhnung zur Verfügung stellen. Die Frage wird nun sein, ob das Treffen am Potomac River wahr genommen wird.
Schauplätze gibt es viele: der russische Krieg in der Ukraine, der Krieg der Türkei gegen die Kurden, der Krieg der Aseris gegen Arzach, der Krieg im Sudan, der Krieg in Syrien? Und nur partiell sichtbar: der ignorierte, schleichende Krieg gegen die Erde. Und von den Medien ignoriert: Die radioaktive Verseuchung der Schlachtfelder mit Uranmunition. Den Betroffenen im Irak wie im Kosowo geht es wie damals den Menschen in New Mexico 1945: Ihr Leiden wird nicht wahrgenommen.
Beim Internationalen Journalismus-Festival in Innsbruck treffe ich den Journalisten Ahmed Alnaouq, er kommt aus Gaza, lebt aber jetzt in London. Seine Familie, seine Verwandten: getötet vor kurzem. Er gibt nicht auf, Journalismus nennt er die Kraft, ohne die eine Gesellschaft nicht frei ist. Und er fragt uns alle: Warum reagieren die Mächtigen nur bei Gewalt? Wäre der ungelöste Konflikt von globaler Bedeutung für die Medien ohne den Terror beider Seiten? Es ist der 5. Mai 2024, der Tag der Pressefreiheit. Am nächsten Tag räumt Netanjahus Polizei das Büro der internationalen Fernsehsenders Al Jazeera.
Das Festival hat in den drei Jahren seines Bestehens einen Raum geschaffen, der seinesgleichen sucht. Hier dürfen Fragen gestellt werden, die vor keinerlei Correctness Stand halten müssen. Der Journalist Giorgos Christides fragt: Jährlich beherbergt Griechenland 35 Millionen Touristen – aber 40.000 Flüchtlinge überfordern das Land?
Window Rock ist wieder vor mir, Klee Benally schiebt sich in meine Gedanken. Ich mache einen Ausflug auf Youtube und entdecke Klee. Er singt seine Cover-Version des Simon-Garfunkel-Hits „Sound of Silence“. Auf seiner Gitarre steht: This Machine Kills Colonizers. Es ist eine Hommage an Woody Guthrie, der auf sein Banjo geschrieben hatte: This Machine kills Fascists. Schaut euch Klee an: www.youtube.com/watch?v=lYu1jzL1jUw.