Editorial
Von Johanna Fischotter
Tourismus – Fluch oder Segen? pogrom / bedrohte Völker 306 (3/2018).
Liebe Leserinnen und Leser,
der Rucksack lehnt an meinem Bett. Rings um ihn herum habe ich T-Shirts, Hosen, Sonnencreme und Muckenspray ausgebreitet. Drausen scheint die Sonne. Drinnen suche ich in den Schubladen der Kommode nach meinem Reisepass. Weit kann er doch nicht sein. Es ist Sommer. So wie mich packt zu dieser Zeit viele Menschen die Reiselust. Egal ob Rucksack-, Tauchoder Vier-Sterne-allesinklusive-Tourist. Um dem Alltag fur einige Tage zu entfliehen, suchen wir den besonderen Reiz in der Ferne.
In dieser Ausgabe von „bedrohte Volker – pogrom“ mochten wir Sie mitnehmen auf eine Reise rund um den Globus: zu den Akwé Xerente in den brasilianischen Busch, auf den heiligen Berg Ulur-u der Aboriginal People in Australien oder zu dem Volk der Moken, die vor den Kusten Burmas und Thailands ein Seenomadenleben fuhren. Sie alle sehen sich mit den enormen Chancen, aber auch den Gefahren einer stets wachsenden Tourismusbranche konfrontiert.
Tourismus bewegt sich in Spannungsfeldern: Wichtige Einnahmequelle versus Kommerzialisierung, kultureller Austausch versus kulturelle Ausbeutung, Erschliesung touristisch attraktiver Gegenden versus Verdrangung der Einheimischen – um nur einige zu nennen. Der Grad zwischen Nutzen und Schaden ist schmal. Besonders, was den Umgang mit religiosen und ethnischen Minderheiten sowie indigenen Volkern angeht. Damit die Reise nicht nur uns Urlaubern in frohlicher Erinnerung bleibt, sondern auch bei den Menschen vor Ort positive Spuren hinterlasst, sammeln wir in dieser Ausgabe einige praktische Tipps. Wir haben etwa mit einer Tourismusexpertin gesprochen sowie das Pro und Kontra eines Tourismusboykotts einzelner Lander abgewogen. Eine Anwaltin aus Australien, die selbst Angehorige der Aboriginal People ist, berichtet, was sich in ihrem Land tut, um das kulturelle Erbe ihres Volkes, aber auch den Verbraucher vor Plagiaten indigener Kunst zu schutzen.
Am Ende liegen die Entscheidungen, wie ich meine Reise gestalte, wie ich mich vor Ort verhalte und welche Prioritaten ich setze, bei mir als Reisende. Ein spannendes Gefuhl. Mit dieser Erkenntnis und voller Vorfreude schultere ich meinen fertig gepackten Rucksack. Den Reisepass habe ich endlich gefunden. Ich bin bereit, wieder Neues kennenzulernen und Menschen zu treffen, die anders leben als ich.
Apropos Neues: In dieser Ausgabe erwartet Sie das erste Mal eine Seite fur Kinder. In dieser Rubrik wollen wir in Zukunft unser Titelthema kindgerecht aufbereiten. Kinder bekommen im Internet und Fernsehen vieles unserer Erwachsenenwelt mit. Umso wichtiger ist es, ihnen die Themen einzuordnen, Interessen zu wecken und Neugierde zu befriedigen. Ich wunsche Ihnen viel Freude beim Entdecken und bei Ihrer nachsten Reise. Ich hoffe, fur eine spannende Reiselekture ist mit dieser Ausgabe von „bedrohte Volker – pogrom“ gesorgt.
Wir wünschen allen eine angenehme und interessante Lektüre!
Johanna Fischotter
[Titelbild] Bitte lächeln – oder eine Grimasse schneiden. Wenn Touristen auf Indigene treffen, kann das für beide Parteien spannend werden. Insgesamt birgt die Tourismusbranche große Chancen, aber auch reichlich Gefahren für indigene Völker. Foto: Filipe Frazao / Shutterstock.com.
Tourismus kritisch sehen
Richtig reisen. Interview mit Antje Monshausen, Leiterin von Tourism Watch
Das Interview führte Johanna Fischotter
Raus aus dem Alltag, rein in die bunte, schone Reisewelt. Doch Klimawandel, Ausbeutung und Benachteiligung der lokalen Bevolkerung sind die Schattenseiten der Tourismusbranche. Antje Monshausen, Leiterin von Tourism Watch bei Brot fur die Welt erklart im Interview, wie reisen auch in Zukunft funktioniert.
In Zeiten von Fernsehen, Internet und immer mehr auch Virtueller Realität (VR) muss ich da überhaupt noch reisen?
Ja. Wer begegnungsorientiert reist, sammelt Erfahrungen und begibt sich in andere Lebenssituationen hinein. Ich glaube, Reisen ist immer noch eine der wichtigsten und eindrucklichsten Moglichkeiten, sich selber und die Menschen, denen man begegnet, in der Welt zu verorten. Leider bietet das Gros der touristischen Angebote heute kaum die Moglichkeit zu Begegnungen auf Augenhohe. Begegnungen, wenn sie denn uberhaupt stattfinden, sind oft so stark vorgeplant oder zeitlich so reduziert, dass sie kaum noch authentisch sind. Viel zu viele Reisende bleiben so in ihrer Komfortzone und konsumieren Erlebnisse vor Ort eher, als sich wirklich auf sie einzulassen. Unter den Gesichtspunkten ist die Frage berechtigt, ob das sein muss. Vor allem, wenn man sich die Risiken und Nebenwirkungen ansieht, die Reisen verursachen.
Sie engagieren sich für nachhaltigen, sozial verantwortlichen und umweltverträglichen Tourismus. Was bedeutet das konkret?
Uns geht es vor allem darum, die Menschen in den Reiselandern in den Mittelpunkt zu stellen: Was sind ihre Wunsche, was ihre Interessen am Tourismus? Einen Schwerpunkt legen wir auf die sozialen und gesellschaftlichen Folgen des Tourismus – auch Klimagerechtigkeit spielt bei uns eine wichtige Rolle, denn das Okologische lasst sich vom Sozialen nicht trennen und darf nicht gegeneinander ausgespielt werden. Die Folgen von Klimawandel und Umweltzerstorung treffen die Menschen in tropischen, okonomisch armeren Landern ganz besonders. Uns geht es darum, die negativen Folgen des Tourismus zu reduzieren und dazu beizutragen, ausbeuterischen Arbeitsbedingungen oder sexueller Ausbeutung von Kindern durch Reisende ein Ende zu setzen. Gleichzeitig muss es darum gehen, die positiven Auswirkungen des Tourismus zu maximieren. Von einer nachhaltigeren Gestaltung des Tourismus profitieren nicht nur Touristen und Unternehmen, sondern breite Teile der Bevolkerung. Uns ist wichtig, dass der Blick nicht nur auf die Menschen geht, die direkt im Tourismus tatig sind. Wir berucksichtigen auch Menschen, die etwa in den touristischen Urlaubsgebieten leben – auch wenn sie selbst nicht im Tourismus arbeiten.
Stichwort Klimawandel. Fernreisen sind besonders schlecht für die Umwelt. Sollte ich deswegen nicht mehr in entfernte Länder reisen?
Der Klimafusabdruck des Reisens ist immens. Jede zwolfte Tonne CO2 geht auf das Konto des Tourismus; und Flugreisen sind sicherlich die klimaschadlichste Form des Reisens. Der absolute Grosteil der Emissionen und klimaschadlichen Wirkungen entsteht beim Fliegen, also bei der An- und Abreise. Von daher lautet die Faustformel: Seltener fliegen, dafur langer vor Ort bleiben. Das hat ubrigens auch positive Auswirkungen auf die Qualitat der Reise. Ich kann mich vor Ort besser auf die lokale Situation einlassen. Wenn es ein selteneres Ereignis ist, bereite ich mich vermutlich auch besser auf die Reise vor. Wenn ich tatsachlich eine Fernreise mache und die Anreise nicht auf dem Landweg, sondern mit dem Flugzeug erfolgen muss, dann habe ich die Moglichkeit zu kompensieren. Dabei gilt es, einen Kompensationsanbieter zu identifizieren, der nach den hochsten Standards der Wissenschaft kompensiert, wie beispielsweise Atmosfair und die kirchliche Klimakollekte. Beide Anbieter berucksichtigen die gesamten Klimawirkungen des Reisens. Durch die Hohe des Emissionsausstoses beim Fliegen entstehen zum Beispiel Wolken. Das und andere Faktoren verstarken die Klimawirkung um das Dreifache der reinen CO2-Emmission. Also nur auf CO2 zu achten, reicht nicht. Wir mussen die gesamte Klimabilanz des Fliegens berucksichtigen. Und wir mussen auch ehrlich sein: Nachhaltiger Tourismus hort spatestens am Flughafen auf. Ab dann ist eine Reise nicht mehr klimavertraglich zu organisieren. Deswegen geht Reduzieren noch vor Kompensieren. Jeder kann dazu beitragen, gerade im Nah- und Mittelstreckenbereich vollstandig aufs Flugzeug zu verzichten. Schlieslich handelt es sich beim reise-verursachten Klimawandel um die Folge eines Luxusphanomens: Die Verursacher sind uberall auf der Welt die reichen Mittel- und Oberschichten. Die Folgen des Klimawandels aber treffen besonders die armen Bevolkerungsgruppen in Entwicklungsund Schwellenlandern, die selbst kaum zum Klimawandel beigetragen haben. Deswegen brauchen wir ein Umdenken hin zu weniger fliegen.
Kann gemeindebasierter Tourismus ein Beispiel für positive Wirkungen vor Ort sein?
Beim gemeindebasierten Tourismus reisen Menschen in Gemeinschaften und Dorfer, die selbstbestimmt entscheiden, ob und in welcher Form sie Tourismus anbieten. Die Selbstbestimmung der Menschen in den Reiselandern ist eine ganz wichtige Voraussetzung fur verantwortungsvolles Reisen und eine tragfahige Tourismuspolitik – ubrigens nicht nur im gemeindebasierten Tourismus. Sie sollte bei allen touristischen Planungen gegeben sein. Die Bevolkerung vor Ort sollte an den Entscheidungsprozessen rund um die touristische Entwicklung beteiligt sein. Gemeindebasierter Tourismus bietet Potentiale fur Gemeinschaften, ist aber gleichzeitig auch ein hochsensibles Reiseangebot. Gaste ubernachten in Gastfamilien oder in kleinen Lodges, die von der Gemeinschaft betrieben werden. Das ist eine tolle Option, einmalige Erfahrungen zu machen. Aber es birgt auch Risiken: Wenn es um den Schutz der Privatsphare der Menschen geht. Auch die Fragestellung vom eigenen Konsumverhalten in oftmals traditionell gepragten Gemeinschaften, also zum Beispiel der Umgang mit Alkohol oder die Frage der Freizugigkeit, kann problematisch sein. Wichtig ist daruber hinaus, den Kindesschutz nicht zu vernachlassigen und vor Ort Sensibilisierungsprogramme zum Schutz von Kindern vor sexueller Ausbeutung durchzufuhren. Gemeindebasierter Tourismus sollte sehr sensibel entwickelt werden und es bedarf Hilfestellung nicht nur fur die Gemeinschaften, sondern auch fur die Reisenden.
Wenn ich gemeindebasierten Tourismus ausprobieren möchte, wie organisiere ich das am besten?
Eine der Herausforderungen beim gemeindebasierten Tourismus ist und bleibt die Vermarktung – in vielen Gemeinschaften fehlen die Infrastruktur und das Know-How fur gute Internetauftritte oder die Fahigkeiten, mit kommerziellen Reiseveranstaltern und Reiseburos faire Vertrage auszuhandeln. Aber in den letzten Jahren hat sich viel getan: Immer mehr Reiseveranstalter haben heute gemeindebasierte Ausfluge und Programme in ihren Katalogen. Da lohnt es sich, nachzufragen. Ansonsten vermarkten sich einige Gemeinschaften auch uber Buchungsplattformen wie TripAdvisor oder Airbnb, Mund-zu- Mund-Propaganda oder Aushange in Hotels oder Hostels in den Landern. Da werden vor allem Backpacker angesprochen. Auserdem kann man sich an den Preistragern des To-do-Wettbewerbs fur verantwortungsvollen Tourismus orientieren. Das Hauptkriterium dieses einmaligen Wettbewerbs ist Partizipation. Eine Jury aus Tourismusexperten – Nichtregierungsorganisationen, Reiseveranstalter, Ministerien – wahlt jedes Jahr aus einigen Dutzend Bewerbungen aus. Die ausgewahlten Initiativen – oftmals dorfliche und gemeindebasierte Angebote – werden anschliesend eine Woche lang von einem Gutachter besucht. Wenn das Programm halt, was es verspricht und die Selbstbestimmung der Menschen tatsachlich sichergestellt ist, werden zwei bis drei Preistrager pro Jahr ausgezeichnet. Auf der Homepage des Wettbewerbs kann man sich die Preistrager der letzten Jahre anschauen. Da findet man tolle Anregungen in vielen Landern der Welt. (www.todocontest.org)
Und die Kehrseite: Können zu viele Touristen zum Problem werden?
Das ist eine sehr wichtige Frage, die mittlerweile auch in der Tourismuswirtschaft und -politik angekommen ist. Wir sprechen in dem Zusammenhang vom sogenannten Over-Tourism. Wo ein unregulierter Tourismus mit zu vielen Besuchern in zu kurzer Zeit stattfindet, da wird Tourismus sehr schnell zum Problem. Das betrifft viele Entwicklungsund Schwellenlander, in denen die Infrastruktur und die Ressourcen nicht ausreichend vorhanden sind, um mit einer groseren Anzahl an Reisenden klarzukommen. In bereits etablierten Tourismusdestinationen, wie beispielsweise den europaischen Hauptstadten oder beliebten Kreuzfahrtzielen, stosen die Kommunen und die Menschen vor Ort an ihre Grenzen. Sehr, sehr viele Reisende besuchen in kurzer Zeit raumlich begrenzte Tourismusattraktionen. Dadurch kommt es zu Problemen der lokalen Bevolkerung, deren Alltag erheblich gestort wird. Das Beispiel Venedig ist bekannt, aber auch Kuba ist so ein Beispiel. Da ist der Kreuzfahrttourismus von einer sehr niedrigen Basis in den letzten drei Jahren um das 50-fache gewachsen. Wenn ein Kreuzfahrtschiff in Havanna anlegt und seine Wassertanks auffullt, kann es passieren, dass es in der Stadt fur einige Stunden kein Wasser gibt. Ein anderes Beispiel fur ein Tourismus-Problem ist: Wenn in wasserarmen Gebieten grose Golfplatze oder Hotels mit parkahnlichen Anlagen bewassert werden mussen und drum herum die Bevolkerung nur einen Bruchteil dieser Wasserressourcen zur Verfugung hat, dann ist das naturlich ein riesiges Problem. Ein einzelnes, luxurioses Hotelzimmer kann pro Tag einen Wasserverbrauch haben wie eine Grosfamilie in der Nachbarschaft im Laufe einer Woche.
Hat sich der Tourismus im Laufe der letzten Jahre verändert?
Der Tourismus hat quantitativ vor allem zugenommen. So ist auch der Ressourcenverbrauch extrem gestiegen. Gleichzeitig gibt es aber auch ein groseres Interesse im Bereich des nachhaltigen Tourismus, wie reprasentative Studien zum Beispiel in Deutschland zeigen. Immer mehr Menschen sind sensibilisiert und sagen: Es ist wichtig, dass die Menschen und die Umwelt vor Ort nicht unter meinem Besuch leiden mussen. Allerdings spiegelt sich diese Sensibilisierung leider nicht in den realen Buchungen wieder. 40 bis 50 Prozent der Deutschen sagen, es sei ihnen wichtig, dass die Umwelt und die Menschen geschont wurden. Ein Buchungskriterium ist die Nachhaltigkeit aber nur bei zwei Prozent der Reisenden. Im wohlhabenderen Kundensegment geht der Trend zur Dritt- und Viertreise und nicht zur Reduktion beim Reisen. Das ware aber notwendig, wenn man die okologischen Folgen des Reisens betrachtet.
Hat sich auch Ihre Arbeit verändert?
Wir sehen weiterhin grosen Bedarf darin, Perspektiven aus den Reiselandern einer breiteren Offentlichkeit hier in Deutschland nahe zu bringen. Das heist auch, den Bereisten, den Opfern oder Betroffenen von Tourismus eine Stimme zu geben. Diese Perspektive findet in der Offentlichkeit sonst nicht statt. Und auch auf Destinationsebene sehen wir den Bedarf, die Zivilgesellschaft vor Ort zu starken. Wenn Tourismuspolitik und Tourismuswirtschaft von Multi-Stakeholder-Ansatzen (Konzept, nach dem die Interessen aller Anspruchsgruppen berucksichtigt werden sollen. Anm. d. Red.) sprechen, dann sind das oft Ansatze, bei denen Politik und Unternehmen miteinander beraten. Die Menschen vor Ort, die Zivilgesellschaft oder Nichtregierungsorganisationen haben kaum eine Stimme. Neben diesen beiden Arbeitsbereichen nimmt hier in Deutschland der Dialog mit der Tourismuswirtschaft einen Schwerpunkt in unserer Arbeit ein. Ein Grosteil des Tourismus in Entwicklungslandern wird uber Reiseveranstalter gebucht. Wir werden in Zukunft unsere Arbeit auch zunehmend auf digitale Buchungsplattformen et cetera ausweiten mussen. Denn immer mehr Menschen buchen einzelne Reisebestandteile nicht mehr in einem Reiseburo oder bei einem Reiseveranstalter, sondern kaufen sich einzelne Komponenten im Internet. Das erfordert naturlich auch eine andere Offentlichkeitsarbeit.
Zwei, drei Fragen zu Ihrer Organisation. Wie ist Tourism Watch entstanden?
Tourism Watch ist vor etwa 40 Jahren mit dem aufkommenden internationalen Tourismus in Entwicklungslandern, als entwicklungspolitische Bildungsstelle entstanden. Die Kirchen aus der Karibik und Asien forderten damals Ihre Bruder- und Schwesterkirchen in Europa und Nordamerika auf, mehr Aufklarungsarbeit bei Touristen zu leisten. Touristen sollten besser darauf vorbereitet sein, dass sie sich in Gesellschaften aufhalten, die deutlich vulnerabler und okonomisch schwacher sind und wo der Tourismus entsprechende Risiken mit sich bringt. Es ging zuerst vor allem darum, dass sensible Oko- und Kultursysteme nicht von Reisenden geschadigt und Kinder vor sexueller Ausbeutung durch Reisende geschutzt werden. Das war in den 70er Jahren ein zentrales Thema und ist leider bis heute ein riesiges Problem. Auch heute noch wird eine steigende Zahl von Kindern Opfer von sexueller Ausbeutung im Kontext Reisen und Tourismus.
Führt Tourism Watch auch Tests durch und spricht Empfehlungen aus?
Nein, Tests machen wir ganz bewusst nicht. Wir sind eine kleine Arbeitsstelle mit zwei Mitarbeiterinnen. Wir unterstutzen aber zum Beispiel die Zertifizierungsgesellschaft TourCert, die wir vor einigen Jahren mitgegrundet haben. Dort sind wir – gemeinsam mit anderen Akteuren, wie Naturschutzorganisationen, Gewerkschaften und Wissenschaftlern – im Zertifizierungsrat. Wir verantworten die Zertifizierungskriterien fur Reiseveranstalter mit und entscheiden letztlich uber die Vergabe des TourCert-Zertifikats an Reiseveranstalter. Uber dieses Instrument geben wir Empfehlungen.
Wenn sich Leute bei Ihnen melden, was ist die am häufigsten gestellte Frage und natürlich deren Antwort?
Viele Menschen stellen ganz praktische Fragen: Mit welchem Reiseveranstalter kann ich guten Gewissens reisen? Welches Land wurden Sie mir empfehlen? Bei der Frage nach den Reiselandern versuchen wir den Menschen Mut zu machen, sich eher mit der Form ihres Reisens auseinanderzusetzen. Jemand, der gerne am Strand liegen mochte und vor allem Erholung und Sonne sucht, muss nicht unbedingt in eine Militardiktatur wie Thailand reisen. Wer aber begegnungsorientiert reisen mochte und eine grose Leidenschaft fur das Land hat, der sollte seinen Wunsch nicht aufgeben. Vielmehr sollte er sich dann ganz bewusst gut vorbereiten. Die zweite haufig gestellte Frage bezieht sich auf unsere Arbeit und die Motivation dahinter. Viele Menschen haben den Eindruck, dass wir permanent gegen Windmuhlen kampfen, weil die Tourismuswirtschaft eine extrem stark wachsende Branche ist. Das stimmt zwar, aber wir haben auch das Privileg mit einem Thema zu arbeiten, das sehr positiv besetzt ist und zu dem viele unserer Gesprachspartner einen personlichen Bezug haben. Auch in der Arbeit mit Partnerorganisationen vor Ort sehen wir immer wieder kleine Erfolge, die uns motivieren und antreiben, weiter zu machen. Wo vor funf Jahren das Thema sexuelle Ausbeutung von Kindern in Sri Lanka ein absolutes Tabuthema war, konnen heute Vertreter aus Tourismuswirtschaft und Zivilgesellschaft gemeinsam und offentlich Losungsstrategien beraten.
Wo Sie eben von Reiseländern und Militärdiktaturen gesprochen haben, wie steht Tourism Watch zu Reiseboykotten einzelner Länder?
Unserer Erfahrung nach treffen Boykotte meist die Falschen. Wir wurden eher von einzelnen Reiseformen abraten und nicht von einzelnen Reiselandern. Die Form, wie jemand Urlaub macht, kann sehr unterschiedlich sein. Und ob Tourismus in Landern, die zum Beispiel von einer Diktatur betroffen sind, fur die Menschen vor Ort sogar ein Sprachrohr in die Welt sein kann, das hangt sehr stark von der Art der Reise ab. Aber ganz klar ist, in solch sensiblen Landern gilt es in besonderer Weise, sich gut vorzubereiten, um die Menschen nicht aus Versehen in Gefahr zu bringen – durch ein unsensibles Verhalten oder durch ein zu offensives Nachfragen uber ihre Lebenssituation.
Welchen Eindruck haben Sie von der Politik? Wird sie ihrer Verantwortung in Bezug auf Tourismus gerecht?
Das Thema Nachhaltigkeit bekommt zumindest einen immer groseren Stellenwert in der Tourismuspolitik. Leider aber ist sie immer noch weitgehend Standortpolitik und konzentriert sich auf die Starkung einzelner Tourismusregionen. Das heist, die Tourismuspolitik in Deutschland beschaftigt sich mit dem Weintourismus an der Mosel oder mit dem Kustentourismus an der Ostsee. Sie beschaftigt sich leider nicht mit dem aus Deutschland hinausgehenden Tourismus. Dort aber liegen die grosen Nachhaltigkeitsfragen. Bei der globalen Bedeutung des Sektors brauchen wir eine Emanzipation der Tourismuspolitik weg von dieser Standortfokussierung hin zu einer globalen Gestaltungspolitik. Ein anderer Punkt ist: In der Entwicklungszusammenarbeit wird Tourismus gerne als Entwicklungsmotor gesehen. Gleichzeitig zeigen uns Statistiken sehr klar, dass der Tourismus langfristig soziale Ungleichheiten verstarken und Umweltzerstorung begunstigen kann. Von daher kommt es sehr darauf an, wie der Tourismus und seine Rahmenbedingungen gestaltet werden. Tourismus darf kein Selbstzweck sein. Leider wird er viel zu oft an seinem eigenen touristischen Erfolg gemessen, also daran, wie viele Touristen kommen, und nicht an den Wirkungen, die der Tourismus auf die lokale Bevolkerung hat. Wenn Tourismus nicht zu einer Verbesserung der lokalen Lebenssituation fuhrt, dann ist er auch entwicklungspolitisch nicht sinnvoll.
Zum Schluss: Was kann ich tun um ein besserer Tourist zu sein? Können Sie mir drei Ratschläge geben, die ich in meinem nächsten Urlaub umsetzen kann?
In Bezug auf den okologischen Fusabdruck lautet die klare Maxime: seltener reisen, dafur langer bleiben. Eine gute Vorbereitung fuhrt sicherlich dazu, dass die eigene Reise sowohl fur die Menschen vor Ort eine bessere Bilanz hat, als auch fur mich als Reisenden mehr Qualitat bringt. Man weis mehr uber das Land und umgeht vielleicht das eine oder andere Fettnapfchen. Dafur findet man vielleicht einen ganz besonderen Tipp vorher schon heraus. Mein ganz personlicher Favorit beim Reisen ist, einfach vor Ort offentliche Verkehrsmittel zu benutzen. Das ist eine tolle Moglichkeit, um mit den Menschen in Kontakt zu kommen, um einfach das normale Leben kennenzulernen und um sich mal – im wahrsten Sinne des Wortes – aus der kleinen, schonen Reisewelt rauszubewegen. Diese Reisetipps erhohen nicht nur die Nachhaltigkeit der Reisen und die positive Wirkung vor Ort, sondern sorgen auch dafur, dass der Urlaub schoner, spannender und einmaliger wird.
Tourismus
Fluch oder Segen für indigene Völker?
Von Yvonne Bangert
Volkerverstandigung? Ehrliches Interesse an fremden Kulturen? Die Suche nach Exotik? Oder gar der Anspruch, Entwicklungshilfe zu leisten? Tourismus bei indigenen Volkern hat viele Facetten.
Acoma Pueblo ist auch als Himmelsstadt bekannt. Sie liegt etwa 120 Meter uber der Steppe. Die meisten Acoma leben heute jedoch nicht mehr auf dem Tafelberg, sondern in der Ebene. Foto: Marshall Henrie / Wikipedia BY-SA 3.0.
Der San Geronimo Day im indianischen Dorf Taos Pueblo am Rio Grande in New Mexiko im Sudwesten der USA ist ein hoher Feiertag. San Geronimo ist der Schutzpatron des Pueblo (Pueblo = Dorf und zugleich Volk). Jedes Jahr wird er Ende September mit Umzugen, Tanzen und allerlei Schabernack der Koshare-Tanzer gefeiert. Koshare haben eine ahnliche Funktion wie Clowns oder Hofnarren. Sie geniesen Narrenfreiheit. Burger des Pueblo bekommen von ihnen den Spiegel uber ihre Verfehlungen des zuruckliegenden Jahres vorgehalten. Nicht-indigene Gaste sind geduldet, solange sie sich an die Spielregeln halten. Das heist, die Tanzer nicht behindern, sich respektvoll verhalten und das Verbot, zu fotografieren oder zu filmen, beachten. Wer sich nicht daran halt, wird von den Koshares mit viel Gejohle uber den Dorfplatz gejagt und bekommt vorubergehend die Kamera weggenommen, damit die Aufnahmen vernichtet werden konnen.
Taos Pueblo wirkt auf den ersten Blick wie ein kommerzielles indianisches Disney Land. Kaum ein Bildband uber den Sudwesten der USA, in dem keine Fotografien der mehrstockigen, in der Adobe-Lehmbautechnik errichteten Dorfhalften zu sehen sind, die sich am Dorfplatz gegenuberliegen. Ein striktes Regelwerk grenzt die Bewegungsfreiheit und den Handlungsrahmen der Touristen jedoch ein:
1. Bitte respektieren Sie die Hinweise auf innerhalb des Ortes gesperrte Gebiete. Sie dienen dem Schutz der Privatsphare unserer Burger und der Statten, an denen wir unsere Religion praktizieren.
2. Wir bitten Sie, nur diejenigen Gebaude zu betreten, die eindeutig als Laden und Geschafte gekennzeichnet sind; alle anderen Gebaude sind nicht fur die Offentlichkeit zuganglich.
3. Bitte fotografieren Sie keinen Taos Pueblo ohne seine Erlaubnis.
4. Fotografieren in der San Geronimo-Kirche ist grundsatzlich verboten.
5. Bitte respektieren Sie unseren Friedhof und betreten Sie ihn nicht. In seinen Grenzen befinden sich auch die Uberreste der alten Kirche. Das Gebiet ist durch eine Adobe-Mauer erkennbar.
6. Gehen Sie nicht in den Fluss, er ist unsere einzige Trinkwasserquelle.
7. Zu guter Letzt: Wir heisen Sie in unserem Zuhause willkommen; bitte respektieren Sie es als sei es Ihr eigenes.
Taos Pueblo ist nicht rund um die Uhr und nicht in allen Bereichen fur Touristen zuganglich. Besucher mussen Eintritt und eine Gebuhr fur Fotos zahlen. Was auf den ersten Blick wie schnode Geschaftemacherei wirkt, dient der Erwirtschaftung eines wichtigen Teils des Einkommens der Taos Pueblos und der Abgrenzung von privaten Bereichen innerhalb des Dorfes ausschlieslich fur seine Einwohner. In New Mexiko gibt es 19 Pueblos. Jedes der Dorfer bildet mit dem umgebenden Land ein kleines Reservat. Sie nutzen unterschiedliche Moglichkeiten, um einerseits vom Tourismus zu profitieren und sich andererseits vor Zudringlichkeiten und Respektlosigkeiten von Fremden zu schutzen. Einige Pueblos unterhalten Hotels in Stadten wie Santa Fe und Albuquerque oder Casinos auf ihrem Land. Dadurch generieren sie Einkommen und Jobs. Beides lebt vor allem von Touristen.
Aus den Wohnbereichen der jahrhundertealten Dorfer halten die meisten Pueblos Touristen heraus. Verstandlich, schlieslich wurde es wohl niemandem von uns gefallen, wenn Fremde einzeln oder in Gruppen ungefragt durch unser Wohnzimmer traben und unser Zuhause abfotografieren wurden. Manche Pueblos kanalisieren die Touristengruppen, indem sie Museen und Laden fur ihr Kunsthandwerk auserhalb der eigentlichen Dorfer an den Zufahrtsstrasen errichten, oder sie nur zu bestimmten Anlassen fur Fremde offnen.
Acoma Pueblo, eine bekannte Touristenattraktion, die sich mit dem Label Sky City vermarktet, lasst nur gefuhrte Gruppen in das historische, auf einem Tafelberg gelegene Dorf. Dort oben liegen auch die Kivas, fur die Religionsausubung der Pueblo-Volker wichtige Zeremonie- und Versammlungsraume, die fur nicht-initiierte Menschen tabu sind. Die Fuhrer achten daher sehr darauf, dass niemand die Gruppe verlasst. Die meisten Familien haben in der Ebene zu Fusen des Felsens neue Hauser gebaut. Dort liegt auch das Besucherzentrum fur Touristen mit einem Museum, Souvenirshop und Gastronomie. Hier konnen sich alle informieren, die keinen Platz in einer der gefuhrten Gruppen bekommen haben.
Auch das qualitativ hochwertige Kunsthandwerk ist seine manchmal hohen Preise wert und wird als Kunst gesammelt. Traditionell getopferte, in handgesetzten Ofen gebrannte und mit selbst hergestellten Farben bemalte Keramiken, gewebte Teppiche oder der fur den Sudwesten typische Silberschmuck sind Handarbeit. Die indigenen Produzenten werden in Listen gefuhrt und kennzeichnen ihre Erzeugnisse mit einem individuellen Logo. So kann jeder Interessent ein Original vom imitierten Billigprodukt aus Mexiko oder Fernost unterscheiden und so die indianischen Produzenten unterstutzen und einen Beitrag zum Erhalt ihrer Kultur leisten.
Vom Mythos des sanften Tourismus
Der sogenannte sanfte oder nachhaltige Tourismus ist nicht automatisch besser als Massentourismus, denn er schutzt die Indigenen nicht vor der Kommerzialisierung ihrer Lebenskonzepte. Die UN riefen 2017 zum Jahr des nachhaltigen Tourismus fur Entwicklung aus. Kritisch setzen sich damit die Tourismusexpertin Anita Pleumarom und Chee Yoke Ling, Direktorin des Third World Network, in einem uber die Global Forest Coalition verbreiteten Aufsatz auseinander (nachzulesen unter: www.socialwatch.org/node/17308). In dieser Koalition sind NGOs und Organisationen indigener Volker zusammengeschlossen, die sich weltweit fur den Schutz der Walder und fur soziale Gerechtigkeit einsetzen. Das internationale Jahr des nachhaltigen Tourismus fuhre in die Irre, heist es in dem Aufsatz. Es verdecke die wirklichen Folgen des Tourismus gerade fur indigene Volker und fur den Klimaschutz.
Weit entfernt davon, Armut zu bekampfen oder die Ziele nachhaltiger Entwicklung zu fordern, seien die meisten touristischen Unternehmungen eher negativ belastet zum Beispiel durch die Forderung von Ungleichheit, durch Menschenrechtsverletzungen, kulturelle Erosion, Verschlechterung der Umweltbedingungen und Gefahrdung des Klimagleichgewichts. Der Reiz dieser Art von Tourismus liege gerade darin, in zerbrechliche Okosysteme und angestammte Landereien indigener Volker zu fuhren. Das konne nicht nur den Verlust an Biodiversitat und kulturellem Erbe mit sich bringen, sondern gehe in der Regel auch mit Langstreckenflugen und den damit verbundenen Belastungen fur das Klima einher. Auserdem werde dieser Tourismus meist von grosen auswartigen Unternehmen betrieben, nicht von kleinen oder gar den Indigenen selbst. Die Zerstorungen blieben im Land, die Gewinne wurden ins Ausland abfliesen. Offentliches Land werde privatisiert und an Investoren fur Luxus-Tourismus aus dem Ausland verkauft. Das fuhre zu Vertreibung und Entmachtung der einheimischen Bevolkerung. Diese stark deregulierte Wirtschaftsform bringe Preissteigerungen und Spekulation und damit hohe Risiken fur die lokale Wirtschaft, die heimische Lebensweise und die Sozialstrukturen.
Weiter heist es im Artikel, die Tourismusorganisation der UN (UN World Tourism Organization / UNWTO) befasse sich nicht ausreichend mit den ungerechten und unhaltbaren Folgen des Tourismus. Sie versuche, den sogenannten nachhaltigen Oko-Tourismus als Problemlosung zu propagieren. Zuerst aber sei es notig, Gesetze und Regeln in Kraft zu setzen, die wirksam die lokale Bevolkerung und ihre Gemeinschaften vor den schadlichen Auswirkungen des Tourismus schutzen. Dazu mussten auch Mechanismen gehoren, welche Reise- und Tourismusunternehmen zu Entschadigungen fur negative soziale Folgen und etwaige Umweltschaden verpflichten.
Kritische Stimmen zum Tourismus bei indigenen Volkern findet man auch uber die in Belgien entstandene Facebook-Seite der Indigenous Tourism Organisation. Uber sie sind indigene und nicht-indigene Organisationen vernetzt und tauschen sich zum Thema Tourismus aus. Nur wenn die Indigenen selbst die Regie daruber haben, welche Teile ihrer Kultur sie zeigen wollen und welche nicht, wie viele Fremde sie wie lange bei sich beherbergen wollen und erst, wenn Reisende und Tourismusunternehmen diese Entscheidungen respektieren, wird man von einem gleichberechtigten Miteinander von Reisenden und Bereisten sprechen konnen.
Yvonne Bangert ist seit 1980 bei der Menschenrechtsorganisation Gesellschaft für bedrohte Völker zunächst als Redakteurin der Zeitschrift „bedrohte Völker – pogrom“ und seit etwa zehn Jahren als Referentin für indigene Völker beschäftigt.